Oldenburger STACHEL Ausgabe 4/00      Seite 1
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Mit Sicherheit nicht sicher

Vertuschte Gefahren in der Atomwirtschaft

Sicherheitsbestimmungen wurden umgangen, Kontrollpapiere gefälscht, Überprüfungen bescheinigt, die gar nicht statt fanden. Das alles nicht etwa bei der technischen Kontrolle von Fahrzeugen, um Himmels willen nein, das wäre ja viel zu gefährlich und hätte außerdem rechtliche Folgen. Gottlob handelt es sich nur um Atomkraftwerk, also Einrichtungen, die von sich aus ("inhärent") so sicher sind, daß ein Versagen ausgeschlossen ist. Sicherheitsbestimmungen sind hier nur reine Formsache, eine wirkliche Bedrohung besteht nicht, und Aufsichtsbehörden brauchen weder zu kontrollieren noch einzuschreiten, ja sind im Grunde überflüssig.

Sarkasmus? Nein, Realität. Offenbar kann im Atombereich an Schlamperei und Betrug passieren kann, was da mag - kein AKW wird deswegen abgeschaltet. Wer - vern´ünftigerweise - davon ausgeht, daß angesichts der besonderen Brisanz von atomtechnischen Anlagen alles Menschenmögliche getan wird, um die denkbar beste Sicherheit zu gewährleisten - was ja auch von der Atomindustrie und den Aufsichtsbehörden seit Jahrzehnten beteuert wird - , das entpuppt sich nicht bloß als besonders störanfällig: Hier haben Industrie, Aufsichtsbehörden und beauftragte Gutachter ein Kartell gebildet, das dem Schlendrian und den Vertuschungen Tür und Tor öffnet, und zwar gleichsam mit inhärenter Systematik.

Unheilige Allianz

Diese unheilige Dreieinigkeit steht seit Beginn ihrer Existenz unter Rechtfertigungsdruck und igelt sich gegen jede Kritik von außen ein. Daß die Atomwirtschaft versucht, jede Unregelmäßigkeit zu vertuschen, entspricht ihrem Profitbestreben. Dem TÜV als langjährigem Monopol-Gutachter fällt die Rolle dessen zu, der seine eigenen Gutachten überprüfen darf. Diese technisch-wissenschaftliche Inzucht führt zwangsläufig zur Interessenkollision zwischen kritischer Prüfung und Auftragslage. Längst legen die personellen Verflechtungen davon Zeugnis ab: Der leitende Ingenieur eines Atomkraftwerkes kann gleichzeitig im Vorstand des TÜV e.V. sitzen, der dieses AKW seit Generationen begutachtet, und Mitglied in der Reaktorsicherheitskommission sein, die der Bundesregierung fachlich zur Seite stehen soll. In dieser Eigenschaft kann er Kritiker der Atomtechnik öffentlich als "fanatisierte Maschinenstürmer" bezeichnen.

Daß die Behörde ebenfalls atomloyal handelt, sei sie rotgrün oder schwarweißkariert, ist nicht ganz so selbstverständlich und bedarf einer Erklärung. In der Krise, wie sie etwa durch die Castorverstrahlungen oder die jetzt in Esenshamm bekannt gewordenen Fälschungen von Sicherheitsdaten gegeben sind, wird an der Art, mit der sie ohne nähere Informationen immer wieder versichert, daß keine Gefahr bestehe, ihre Identifikation mit dem Projekt Atomtechnik deutlich. Diese deutsche Tradition hat natürlich auch damit zu tun, daß Behördenvetreter ihre Dienst- und Freizeit nicht mit kritischen Experten und Bürgerinitiativen, sondern TÜV-Gutachtern und Atomlobbyisten verbringen. Dabei sei erinnert, daß die Bundesatomaufsicht, als sie noch in Händen der schwarzgelben Koalition lag, mit dem Verbot der Castortransporte entschlossener reagierte, als es für die niedersächsische jemals denkbar scheint.

Sellafield und die British Nuklear Fuels (BNFL)

In der britischen Anlage für die Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (WAA) in Sellafield wurden Sicherheitsüberprüfungen umgangen und Zertifikate gefälscht. Was ist das für eine Anlage, und warum ist sie den deutschen Atomkraftwerken so wichtig?

In Sellafield wird neuer Nuklearbrennstoff aus abgebranntem gewonnen, "wiederaufbereitet", wie es in der Fachsprache heißt. So auch mit den Brennelementen deutscher Atomkraftwerke. In der Anlage MDF (MOX* Demonstration Facility) wird Uran- und Plutoniumoxid zu zylindrischen Tabletten von 8.2 mm Durchmesser und 11 mm Lange gepreßt. Diese pellets werden anschließend in entsprechend dünnen, fünf Meter langen Röhren aufeinandergeschichtet, so daß Brennstäbe entstehen, die ihrerseits zu je zweihundert Stück in einem Brennelement gebündelt werden. Jedes pellet passiert ein automatisches Mikrometer, von dem es mit Laserlicht auf Unregelmäßigkeiten abgetastet wird. Anschließend durchläuft es ein weiteres optisches Mikrometer. Schließlich werden 5 % der pellets in einer Sicherheitsüberprüfung stichprobenartig ein drittes Mal untersucht. Bei jedem Check geht es um die korrekten Abmessungen, die bei Abweichungen von mehr als ein Prozent zu Störungen in der Kettenreaktion und Beschädigungen der Brennstabhüllen und damit zu inner- und außerbetrieblichen Verstrahlungen führen können.

Keine Sicherheitskultur

Am 20. August 1999 stellten MDF-Kontrolleure fest, daß die Daten verschiedener pellets von Prüfreihen der zweiten Prüfstufe identisch waren, was bei Meßgenauigkeiten von Tausendstel Millimetern praktisch nie vorkommt. Am 10. September informierten sie die britischen Gesundheitsbehörden, daß einige der Zweitüberprüfungen von Brennstofftabletten für japanische AKWs gefälscht worden waren, indem man die Meßdateien anderer, bereits freigeprüfter pellets kopiert hatte. Die Behörde untersuchte den Vorfall sofort, bestätigte die Fälschungen, aber beruhigte die Öffentlichkeit und die japanischen Kunden mit der Information, daß gemäß den Erstprüfungsreihen alle ausgelieferten Brennstoffe einwandfrei seien. Dennoch strengte die Behörde weitere Ermittlungen an, um unter anderem zu überprüfen, ob der betreffende Brennstoff "will be save in use", also betriebssicher sei. Gleichzeitig wurde die Teilanlage MDF bis auf weiteres geschlossen mit der Begründung, daß es ihr an der "verläßlichen Sicherheitskultur" fehle. Dies läßt zumindest den Schluß zu, daß die Briten nicht ganz sicher sind, ob die ausgelieferten Brennstofftabletten wirklich so harmlos sind, wie sie sagen.

Nicht meldepflichtig

Daß es nicht nur um japanische, sondern auch deutsche Kunden ging, und zwar um das AKW Esenshamm, war an der Unterweser wohl schon im September bekannt, und auch, daß vier Brennelemente betroffen waren. Daß diese dennoch in den Reaktor eingesetzt wurden, ist schon ein Skandal, der aber noch von der Tatsache übertroffen wird, daß sie damit formal nicht unkorrekt handelten, wie Umweltminister Jüttner vor der Presse mitteilte. Damit erweisen sich die Kontrollen der niedersächsischen Aufsichtsbehörde als unwirksam. Ein Versehen, oder wird hier die Verschleierung, Verharmlosung und Lüge zur Methode? In jedem Fall ist festzustellen, daß die Produktionsumstände der britischen Anlage nach deutschem Umweltrecht längst zu einer Stillegung hätten führen müssen. Die französische Anlage in Cap de La Hague als zweiter dieser Art auf der Welt, die ebenfalls keinen deutschen Umweltstandards genügt, hat nun auch zugegeben, daß es bei ihr zu ganz ähnlichen Fälschungen von Sicherheitsdaten gekommen sei wie in Sellafield.

Sicherheitsrisiko Aufsichtsbehörde

Die niedersächsische Atomaufsicht behauptete, keine Nachrichten über die gefälschten Sicherheitsdaten von Brennelementen, die im AKW Esenshamm eingesetzt wurden, erhalten zu haben. Das Fax sei einfach nicht angekommen, entschuldigte sich der SPD-Politiker und Umweltminister Jüttner treuherzig. Da aber der Absender den Informationsfluß nachweisen konnte, ist Jüttner entweder der Lüge oder eines unglaublichen Schlendrians überführt. In jedem Fall wird deutlich, daß sicherheitsrelevante Informationen nicht etwa sofort weitergegeben und bestätigt werden, schon gar keinen ihrer Bedeutung entsprechenden Weg nehmen, sondern als gewöhnliche Nachricht über irgendein Faxgerät in das Ministerium tickern. Kann hier noch die Rede von Sicherheit sein?

Bimbes

Was bei der Korruptionsaffäre der Kohl-Regierung nur verschämt durchscheint und gern kleingeredet wird, nämlich daß politische Entscheidungen von der Industrie gekauft werden, findet im Atombereich vor aller Augen statt. Dabei müssen keine Millionen fließen - ob sie es dennoch tun, bleibe dahingestellt - sondern rotgrüne Politiker eilen den Wünschen der Atomkonzerne voraus, um nicht in den Ruf der Industriefeindlichkeit zu kommen. Sogenannte Konsensverhandlungen bilden die Bühne, auf der Industrielle ihre Vorstellungen von Bestandsschutz von weiteren Jahrzehnten vorgeben durchsetzen. Kanzler und grünes Umweltministerium erklären dies in dreistem Schulterschluß zu ihrem Ausstiegskonzept.

Inquisition

Unter dem Eindruck einer Politik, die AKWs mit grünem Prüfsiegel hervorgebracht hat und durch den jüngsten Parteitag der Grünen fest einbetoniert wurde, ist die gesellschaftliche Diskussion um die Gefährlichkeit von kerntechnischen Anlagen hoffnungslos ins Hintertreffen geraten. Schon müssen kritische WissenschaftlerInnen damit rechnen, daß sie inquisitorisch mundtot gemacht werden und Ruf und Job verlieren, wenn sie die These unterstützen, daß die an der Elbe sich häufenden Leukämiefälle auf den Betrieb des AKW Krümmel zurückgehen. So ging es der Physikerin Professor Schmitz-Feuerhake aus Bremen und den sie unterstützenden Ärzten der Region, so ergeht es Fachleuten, die offene Kritik an der Atomtechnologie üben.

Rotgrüne Politik, wenn sie denn ausstiegswillig wäre, könnte nun hier mit einer breiten Aufklärungskampagne über die Risiken der Atomenergie eingreifen, doch stattdessen läßt sie sich auf Wirtschaftlichkeitsfragen einengen. So werden Fragen vermieden, die der Atomlobby wirkliche Schmerzen bereiten. Eine öffentliche Diskussion würde vielen klar machen, daß Atomkraftwerke gefährliche Zeitbomben sind. Ein schwerer Reaktorunfall wie Tschernobyl ist in deutschen AKWs jederzeit möglich, er ist in keiner Weise ausgeschlossen. Hinzu kommt, daß der Betrieb durch alternde Technik und Verschleiß zunehmend riskanter wird. Dieses Argument aus der Hand zu geben heißt, sich auf jede ökonomisch begründete Restlaufzeit einlassen zu müssen, genau wie es auch geschah.

Bekannte Schwachstellen

Eine Gutachtergruppe um den kritischen Reaktorexperten Lothar Hahn hatte in Esenshamm 14 sicherheitsrelevante Mängel festgestellt. Diese sollten im Wege einer Schwachstellenanalyse näher geprüft und behoben werden, was das Aus für den Reaktor oder doch endlose Ausfallzeiten und eine Kostenlawine bedeutet hätte. Das Umweltministerium sagte zügige Bearbeitung zu, und zwar durch den Staatssekretär vor aller Öffentlichkeit.

Die Expertengruppe sollte unabhängig sein. Damit wäre aber dem TÜV das Gutachtermonopol entzogen worden. Da dies aus bereits dargelegten Gründen nicht geschah und auch kaum geschehen wird, wurde die Schwachstellenanalyse wurde nie durchgeführt. Das bedeutet, die Landesregierung gestattet vorsätzlich einen Reaktorbetrieb mit angemahnten, aber ungeprüften Sicherheitsmängeln.

Ausstieg aus dem Ausstieg

Erinnern wir uns: Die Sozialdemokraten beschlossen nach dem Super-Gau von Tschernobyl im Jahre 1986 einen Atomausstieg binnen 10 Jahren. Das fiel ihnen leicht, da sie als Opposition wenig Gefahr liefen, diesen Beschluß auch umsetzen zu müssen. Doch als der fesche Gerhard 1990 ins Leineschloß einzog, war der Ausstiegsbeschluß durch das Benrather Protokoll schon längst gekippt. Vom Abschalten wollte man nicht mehr reden, und die Grünen durften an der Leine nicht mitbestimmen, sondern wurden von Schröder an die Leine gelegt. Wozu Schröder sie damals noch zwingen mußte, scheint ihnen allerdings inzwischen zum Handlungsmotiv geraten. Schon verlangt Außenminister Fischer von seinem Parteivolk den Weiterbetrieb "unserer" AKWs zur Vernichtung russischen Waffenplutoniums (siehe Kasten).

*MOX: Mischoxid aus Plutonium und Uran. Wurde früher nur Uran verwendet, so ist mit der Anhäufung von Plutonium, einem unvermeidlichen Nebenprodukt des Reaktorbetriebs, auch seine nukleare Verwertung wirtschaftlich geworden. Plutonium-239 verhält sich als Reaktorbrennstoff ähnlich wie Uran-235, ist aber im handling ungleich gefährlicher, wesentlich giftiger und kann schneller kritisch werden. Außerdem wird bei der Kettenreaktion neues Plutonium erzeugt, also eine Endlosschleife.

Nicht versichert

Die Assekuranzen berechnen ein Risiko nach der Formel R = E x A, wobei E die Eintrittswahrscheinlichkeit und A das Ausmaß des Schadens darstellen. Lange Zeit behauptete die Atomlobby unisono mit der Bundesregierung, daß ein Kernschmelzunfall (Super-GAU) höchstens alle Milliarde Jahre geschehen könne, womit E gegen Null gehe und damit auch R gleich Null sei. Doch das verfing bei den Versicherern nicht, und schließlich bequemte sich die Bundesregierung zu einer amtlichen Studie ("Phase B"), die die Eintrittswahrscheinlichkeit mit 1:33000 pro Reaktorjahr errechnete, also bei weltweit 400 Reaktoren ein Super-GAU einmal innerhalb 83 Jahren. Gleichzeitig bestätigt das Gutachten die Befürchtungen, daß es keine Spielräume zur Evakuierung gibt und die Strahlenverseuchung schlicht verheerend wäre, Millionen von Opfern wären zu beklagen, nennenswerte Teile Europas für immer unbewohnbar. Seither rechnen die Assekuranzen das Schadensausmaß A gleich unendlich, mithin ist auch das Risiko R unendlich groß, und deshalb haben sie sich aus der AKW-Versicherung verabschiedet.

Ingo Harms

(Kasten)

Längst umgeben sich grüne Politiker mit selbsternannten Experten, die den Ausstieg aus juristischen Gründen zur Unmöglichkeit erklären wollen. Bei dieser Ignoranz gegenüber den technisch-ökologischen Fakten nimmt es kaum noch Wunder, wenn sich die ParteigängerInnen den Einsatz der stillgelegten Hanauer Plutoniumschmiede für russisches Waffenplutonium aufzwingen läßt. Im Interesse der weltweiten Abrüstung, so der Außenminister an sein Parteivolk, gebe es eine Verpflichtung zum Weiterbetrieb deutscher AKWs, weil diese die technische Möglichkeit besäßen, russisches Waffenplutonium in Form von MOX-Brennstoff zu vernichten.

Die Botschaft scheint an das Schuldbewußtsein aus dem Kosovo-Krieg zu appelieren und anzukommen. Bei solcher Polarisierung spielen die Fakten keine Rolle mehr, etwa, daß jede Plutoniumverbrennung im Reaktor immer wieder neues Plutonium hervorbringt, oder, daß dieses sich im Prinzip nicht vom Waffenplutonium unterscheidet. MOX-Produktion und -verbrennung als Werkzeug des Pazifismus aufzubauen heißt, die Dioxin-Chemie zum Gesundbrunnen zu erklären. Die Erzeugung von Mischoxid, einem Gemisch aus drei Prozent Plutonium und 97 Prozent leichtangereichertem Uran, und seine Verwendung in Reaktoren ist viermal teurer als die Verwendung frischen Urans, manche Studien sprechen sogar vom achtfachen Preis. Überdies ist sie aber ungleich gefährlicher, denn Plutonium ist in seinen gesundheitlichen Folgen tatsächlich der Höllenstoff, den der Name nahelegen will. Je mehr Stationen der Bearbeitung und des Transports, umso größer ist die Verbreitung des Plutoniums in der Umwelt allein aufgrund unvermeidlicher Leckagen. In Sellafield werden jährlich 300 Kilogramm ins Meer gepumpt, in La Hague dürfte es ebenso viel sein. In jeder Plutoniumanlage rechnet man mit 3 - 5,5 Prozent Schwund pro Jahr. Deutschland sitzt derzeit auf 30 Tonnen Plutonium. Alle vier bis fünf Jahre wird in den zivilen Reaktoren 70 Tonnen erzeugt, das ist soviel wie die Produktion von strategischem Plutonium während des gesamten Kalten Krieges. Die Welt sitzt heute also auf rund 70 Tonnen strategischem und 1200 Tonnen "zivilem" Plutonium, von dem ein gewisser Prozentsatz unaufhaltsam in die Umwelt vordringt. Wer angesichts dieser Relationen fordert, nur das russische Sprengkopfmaterial als besonders gefährlich zu vernichten, vertritt die Interesses der Atomindustrie handeln. Sie kann hoffen, das russische Material und die MOX-Produktion als Subventionsgeschenk und ein Image als Friedensengel als Dreingabe zu bekommen.

 

 
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