Oldenburger STACHEL Ausgabe 9/00      Seite 14
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Schuldbekenntnisse - Lippenbekenntnisse?

Das Schweigen der Kirche zur NS-Euthanasie in Wehnen

Schuldbekenntnisse haben derzeit Konjunktur. Der Papst entschuldigt sich für 2000jährige Verfehlungen der Kirche, Politiker entschuldigen sich für Vorteilnahme im Amt, Deutschland entschuldigt sich für die Naziverbrechen, die Schweiz entschuldigt sich für die Abweisung jüdischer Emigranten, Unternehmen entschuldigen sich für Sklavenarbeit unter dem Hakenkreuz - ein wahrer Sorry-Trend. Doch schaut man genauer hin, geht es über Lippenbekenntnisse oft nicht hinaus. So enthält zum Beispiel das vielgelobte Meaculpa des Papstes, nach Meinung seines Beratergremiums "alles andere als reine Rhetorik", bei näherem Hinsehen eher Allgemeinplätze als die Bitte um Vergebung für das Schweigen zu den Naziverbrechen".(1)

Ein tönendes "Entschuldigung" allein hat den Opfern noch selten Genugtuung verschafft. Entscheidend ist ja wohl der Inhalt des Bekenntnisses und seine Umsetzung in tätige Reue. Glaubhaft erscheint da zum Beispiel die Entschuldigung deutscher Gynäkologen der Gegenwart im Namen ihres Berufsstandes bei den Opfern der NS-Zwangssterilisierungen.(2) Entschuldigt sich jedoch ein Helmut Kohl für sechzehn Jahre gekaufte Politik, dann ist es an Hohlheit kaum zu überbieten. Aus solchen Gründen forderte der Oldenburger Bischof Peter Krug jüngst mehr Moral und eine "ernsthafte Auseinandersetzung mit Schuld und Entschuldigung".(3)

Gut gesprochen, doch hat sich der Bischof mit der Frage auseinandergesetzt, welche Mitschuld seine Kirche am Naziterror trifft? Kennt er zum Beispiel das "Oldenburger Schuldbekenntnis" vom November 1945, in der diese Mitschuld eingestanden wird? Beflügelt vom "Stuttgarter Schuldbekenntnis"(4), hielt die Evangelische Landeskirche Oldenburg im Herbst 1945 eine außerordentliche Synode ab, in der sie unter anderem zu folgendem Bekenntnis kam: "Wir haben uns abgewendet, wenn unserem Nächsten an Leib und Leben und an seiner Freiheit Schaden und Leid geschah. Darum erhob sich in unserem Land Gewalttat und Mord, wie es nun vor aller Welt offenbar ist."(5)

Auch dieser Formulierung fehlt es an Konkretisierung und dem erkennbaren Willen zur Umsetzung in die Tat. Denn was tat die Kirche für die Opfer des Naziterrors im Oldenburger Land, deren Zahl weit in die Tausende ging? Und in welchen Fällen bekannte sie ihr Stillhalten bei den Verbrechen gegen Menschlichkeit, Leib und Leben? Wo gar verlangte sie Untersuchungen oder setzte sie selbst in Gang?

Neben dem bekannten Terror gegen die jüdische Bevölkerung, neben den Schrecken der Emslandlager und der Willkür gegen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene gab und gibt es bisher ungenannte Opfer des rassenbiologschen Wahns Oldenburger Ärzte. Wenigstens zehntausend oldenburgische Bürgerinnen und Bürger wurden von Ärzten zur Zwangssterilisation verurteilt und in den Kliniken von Wilhelmshaven, Delmenhorst und Oldenburg einem brutalen operativen Eingriff unterzogen. Das geschah nicht nur in städtischen Einrichtungen, sondern auch durch die Hand konfessionell bekennender Ärzte und Krankenschwestern, die der Caritas und der Diakonie angehörten. Im katholischen Piushospital wurden die Opfer ebenso unbarmherzig mißhandelt wie im Evangelischen Krankenhaus.

Auch bei der Verschleppung von zweihundert Kindern und Jugendlichen aus dem Pflegeheim Kloster Blankenburg waren die Diakonie und ein katholischer Arzt beteiligt. Wenige kümmerte die Frage, wohin die Kinder kamen und was mit ihnen geschah. Zwar wurde der Diakon Guhlke zur Erkundung in die Anstalt Kutzenberg in Oberfranken entsandt, wohin die meisten verlegt worden waren, aber niemand nahm von seiner Botschaft besondere Notiz, daß sie dort in rascher Folge starben.(6) Kein Pfarrer, keine kirchliche Institution setzte sich für sie ein, obwohl der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, seine "größte Sorge um das Schicksal der... fortgeschafften Pfleglinge" zum Ausdruck gebracht hatte.(7) Die Diakonie sah nach dem Kriege keinen Grund zu dem Bekenntnis, daß sie stillgehalten hatte, als ihre Schützlinge von den Nazis verschleppt worden waren.

Und wie reagierte die Kirche auf die "Euthanasie"? In der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen fielen minde-stens 1500 Patienten den Euthanasie-Morden zum Opfer. Unter den Augen katholischer und evangelischer Seelsorger erlitten sie das qualvolle Martyrium der Aushungerung bis zum Tod. Der katholische Anstaltspfarrer wurde dabei zum Kronzeugen einer beispiellosen historischen Legendenbildung, die noch heute behauptet, daß die NS-Euthanasie durch die Predigten Bischof von Galens im Jahr 1941 beendet worden sei. Doch überall ging das Morden weiter. Auch in Wehnen wurden die Patienten nach 1941 um-gebracht, sogar verstärkt, bis weit ins Jahr 1945 hinein. Der Anstaltspfarrer hätte die Legende vom Sieg seines Bischofs über die NS-Euthanasie durch eigenes Zeugnis täglich Lügen strafen können und müs-sen, doch er schwieg genauso, wie es seine Kirche tat.

Auch der evangelische Pastor Brinkmann wurde Augenzeuge der Vernichtung angeblich "minderwertiger", als "unbrauchbar" geltender Patienten in Wehnen. Viele von ihnen brachte er persönlich unter die Erde. Obwohl er als evangelischer Geistlicher keiner Beichtpflicht unterlag, ist kaum vorstellbar, daß er sein Wissen für sich behielt, zumal auch die Bevölkerung sehr gut Bescheid wußte. Jedenfalls war sein Nachfolger Pastor Stegmann, der die Kirchengemeinde Ofen bis in die 80er Jahr hinein leitete, über die Hungertode in Wehnen informiert(8). Doch er schloß sich der Kirchengemeinde, der Oldenburgischen Landeskirche und der Diakonie an und schwieg.

Mit diesem Schweigen entzog sich die Kirchengemeinde nicht nur ihrer Verantwortung gegenüber den Angehörigen, sondern machte sich mitschuldig an der Verleugnung der Verbrechen und ihrer Opfer. Daß sie damit gleichzeitig die Täter deckte, ist auch ein juristischer Skandal. Als die Geschichtsforschung in den neunziger Jahren das große Sterben von Wehnen untersuchte, hielt sich die Kirche bedeckt und zeigte weder Interesse noch Unterstützung. Doch im Sommer 1995 ließ die Kirchengemeinde plötzlich den Teil ihres Friedhofs einebnen, auf dem die Euthanasie-Opfer ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Anschließend stellte man eine Skulptur auf, die allerdings mit ihren eher allgemein gehaltenen Texten aus dem Buch Hiob und dem Psalm 22 keinen Bezug zur "Euthanasie" herstellte. Als dann die Forschung mit ihrem Untersuchungsergebnis jeden Zweifel an dem massenhaften Patientenmord in Wehnen ausräumte, wurde eine Gedenktafel hinzugefügt. Auf der Fläche einer halben Zeitungsseite, im Boden eingelassen, wird an die Opfer erinnert: "... vergessen - gequält - ermordet".

Die Angehörigen der Ermordeten, die sich inzwischen zu einem Gedenkkreis zusammenfanden, sind von diesem Vorgehen befremdet. Sie fragen sich, warum die Kirchengemeinde vor der Errichtung eines Mahnmals nicht mit ihnen oder der Forschung Kontakt aufnahm. Von einem Mahnmal erwarten sie, in ihrer persönlichen Trauer und Betroffenheit angesprochen zu sein. Als sie die Frage in den Raum stellten, ob mit der Planierung der Gräber vielleicht auch Spuren beseitigt werden sollten, reagierte die Kirchengemeinde unwirsch. Diese "Unterstellung und Rufschädigung" verbitte man sich und bestehe künftig auf Unterlassung.(9) Man verwies darauf, daß zum Zeitpunkt der Planierung keine Gräber aus der fraglichen Zeit mehr vorhanden gewesen seien. Die Angehörigen zeigten sich darüber nicht informiert. Sie hätten angesichts der wissenschaftlichen Bestätigung, daß ihre Eltern und Geschwister damals ermordet wurden, nach einem Ort für ihre neu aufgebrochenen Trauer gesucht, und dieser Ort sei nun einmal der Friedhof.

Auch wenn man vorschnelle Verdächtigungen nicht gutheißen kann, so stände der Kirchengemeinde gut eine verständnisvolle Reaktion gut an, denn sie befindet sich in der Bringschuld. Zwar bot sie den Angehörigen ihr Gemeindezentrum als Tagungsort an und zeigte sich auch sonst aufgeschlossen, doch ließ sie in der Sache keine Einsicht erkennen. Anstatt den traumatisierten Angehörigen Zuspruch und Trost anzubieten, übt sie sich in Drohgebärden. Statt sich zu ihrer Mitschuld zu bekennen, spricht sie Warnun-gen aus und ist um ihren Ruf besorgt. Statt sich zu entschuldigen, klagt sie an. Von Bußfertigkeit keine Spur.

Eine kirchliche Einrichtung, die 50 Jahre lang zu den Euthanasiemorden in "ihrer" Anstalt schwieg und damit die Opfer verleugnete und die Täter deckte, während ihnen das Leid der Angehörigen egal zu sein schien, hätte allen Grund, sich die Frage nach Verantwortung und Schuld zu stellen, bevor sie andere mit Steinen bewirft.

G. Korbus

(1) Internationale Theologenkommission, Erinnern und Versöhnen. Die Kirche und die Verfehlungen in ihrer Vergangenheit, Freiburg 2000, Auszüge in: Frankf. Rundschau, "Grund zum tiefen Bedauern für alle Christen", 8.3.2000, S. 12.

(2) Eine späte Entschuldigung. Die deutschen Gynäkologen und die NS-Vergangenheit, Süddt.Zeitung 31.8.94.

(3) "Bischof: éPerversion der Moral` Einhalt gebieten", NWZ 19.5.2000.

(4) "Im Namen der ganzen Kirche" wird darin festgestellt: "Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregime seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben", schrieben Martin Niemöller und andere leitende Mitarbeiter der Amtskirche 1945. Evang. Zeitung Nr. 41, 15.10.1995, S. 3).

(5) Gesetz- und Verordnungsblatt für die Evang.-Luth. Kirche des Landesteils Oldenburg, XIII. Band, 14.11.1945.

(6) Kutzenberg und Erlangen waren sog. "Zwischenanstalten" des Euthanasieprogramms, in denen die Todeskandidaten zur Verwi-schung der Spuren vorübergehend untergebracht wurden, bis sie in die Vergasungsanstalten kamen. Die Blankenburger Kinder fielen jedoch nicht der Gaskammer, sondern der "Hungerdiät", wie die Pfleger ihre Euthanasiemethode nannten, zum Opfer. Vgl. Alfons Zenk, Die oberfränkische Heil- und Pflegeanstalt Kutzenberg, in: Michael v. Cranach und Hans-Ludwig Siemen, Psych-iatrie im Nationalsozialismus, Mchn. 1999.

(7) Bischof von Galen an den Klerus des Landes Oldenburg, 26.9.1941, Bezirksverband-Archiv 04-01.

(8) Vgl. Ingo Harms, Wat mööt wi hier smachten..., Oldenburg 1996, 2. Aufl. 1998, S. 63.

(9) Schreiben der Evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Ofen an die Angehörigen von Opfern der NS-Euthanasie, 13.3.2000.

 

 
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