Oldenburger STACHEL Ausgabe 9/00      Seite 16
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Offener Brief an die Mitglieder der rot/grünen Ratsfraktionen

In diesem STACHEL wird umfangreich zum Stadtsäckel berichtet. Im Folgenden dokumentieren wir ein Schreiben, das von vielen sozialen Einrichtungen aus Oldenburg bereits vor der Sommerpause veröffentlicht wurde. Es fand selbst bei der Bild-West, HR und OSO Berückichtigung. Kein Medium jedoch berichtete von den alternativen Vorchlägen wie der Anhebung der Grundsteuer. Deshalb im STACHEL die unzensierte Dokumentation:

Sehr geehrte Damen und Herren,

Im »Aktionsbündnis Oldenburg 2000 – Die Zukunft des Sozialstaates« haben sich zahlreiche Oldenburger Einrichtungen und Initiativen aus dem Sozial-, Selbsthilfe- und Bildungsbereich zusammengeschlossen, weil sie um den Fortbestand ihrer Arbeit bangen müssen. Mit diesem Brief protestieren wir gegen weitere Kürzungen im Sozial- und Bildungsbereich.

Es war 1996, als wir das letzte Mal öffentlich gegen weitere Kürzungen im sozialen Bereich protestierten. Damals haben Sie die Zuschüsse der Stadt an unsere Einrichtungen für das Jahr 1997 trotzdem um 15 Prozent gekürzt, aber danach hoch und heilig versichert: "Keine weiteren Kürzungen im sozialen Bereich! Mit uns nicht mehr! Das war das letzte Mal!" Waren wir eigentlich noch überrascht, als wir jetzt der NWZ entnehmen mußten, daß für den Haushalt 2000 niemand von Kürzungen ausgenommen werde? Sechs Prozent sollen pauschal gekürzt werden, um eine Auflage der Bez-Reg.-Weser-Ems zur Haushaltssanierung zu erfüllen.

Es ist nicht etwa so, daß die laufende Förderung der vergangenen Jahre ausreichend gewesen wäre. Bei den meisten Einrichtungen liegt die tatsächliche Auszahlung seit Jahren erheblich unter der beantragten Summe, vom tatsächlichen Bedarf gar nicht zu reden. Allein die jährlich gleichbleibenden Förderbeträge bedeuten faktisch schleichende Kürzungen für uns: keine Gehaltsangleichungen, kein Inflationsausgleich.

Wir wünschen uns eine Gesellschaft, in der unsere Arbeit überflüssig wäre. Eigentlich müßten wir gemeinsam mit Ihnen über die gesellschaftlichen Ursachen von Armut, Erwerbslosigkeit und gesellschaftlicher Ausgrenzung, über zunehmende Gewalt und sexuellen Mißbrauch diskutieren. Konzepte von Arbeitszeitverkürzung, sozialer Grundsicherung, Umverteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit und Ausweitung von Prävention stünden auf der Tagesordnung, um den wachsenden Problemen Einhalt zu gebieten. Stattdessen stehen wir mit dem Rücken an der Wand, weil wir uns gegen Ihre Sparvorhaben wehren müssen.

Viele von Ihnen wissen, daß wir unsere Arbeit oft lange Jahre ohne jegliche Bezahlung, unter schwierigsten Bedingungen verrichtet haben und daß auch heute nach wie vor nur großes Engagement weit über den eng gesteckten Rahmen der finanziellen Förderung hinaus unsere Einrichtungen am Leben erhält. Dabei handelt es sich aber um gesellschaftlich notwendige, sinnvolle und oftmals präventive Arbeit – also Arbeit, für die eine sozial verantwortliche Kommune eigentlich selber sorgen sollte.

Die Arbeit ist notwendig professioneller geworden. Bezahlte Arbeit, die erforderlichen Räume und die sachlich-technische Ausstattung unserer Einrichtungen müßten eigentlich mit diesem Bedarf wachsen – tatsächlich aber werden die Förderungen zusammengestrichen. Die Ungerechtigkeit daran ist, daß diese Bedingungen und alle Streichungen sich direkt auf die Menschen in Konfliktsituationen auswirken. Sie werden doppelt bestraft: Das erste Mal durch ihre gesellschaftliche und soziale Lage, in die sie unfreiwillig geraten sind, das zweite Mal durch den Entzug konkreter Hilfe, gegen den sie sich kaum selbst wehren können.

Vielleicht stellen Sie sich einmal vor, Sie müßten Ihre Arbeit jedes Jahr mit weniger Geld und der bangen Frage im Nacken zu verrichten, ob es im nächsten Jahr überhaupt weiter geht? Wieviel Kraft und Zeit müssen wir ständig nur dafür aufbringen, für den Erhalt unserer Einrichtungen zu kämpfen!

Jetzt soll es schon wieder so sein. Aber unsere Schmerzgrenze ist erreicht! Wir sind auch nicht länger bereit, Ihre Ausreden zu akzeptieren. Mit den eingesparten gerade mal 100.000 DM, die durch die Sechs-Prozent-Kürzung bei unseren Einrichtungen zusammenkommen, werden Sie den Oldenburger Haushalt niemals sanieren – die soziale Infrastruktur von Oldenburg aber werden sie damit nachhaltig Stück um Stück zerstören. Der Spareffekt steht in keinem Verhältnis zu den Auswirkungen.

Wir sehen bei Ihnen keine ernsthafte Debatte über Alternativen zum unsozialen Sparen: Keine neue Idee, keine Kreativität, keine innovativen Konzepte, um trotz oder gegen die Haushaltslage auch nur einen kleinen Rest Ihrer eigenen politischen Ansprüche verwirklichen zu können. Die Oldenburger Fraktionen wetteifern ums Sparen – von konstruktiver Gestaltung, vom Primat der Politik keine Spur. Aus unserer Sicht und aus der Sicht der Betroffenen ist es aber egal, welche Partei uns den Garaus machen wird. Wer nur noch zwischen seinen Henkern wählen darf, der geht besser gar nicht wählen...

Angesichts dieser Entwicklungen empfinden wir es als zynisch, wenn einige unter Ihnen ausgerechnet uns mangelnde Innovationsfähigkeit vorwerfen. Wir haben seit Jahren durchaus kreative und vor allem sozial gerechte Vorschläge für eine Verbesserung der Haushaltslage eingebracht. Aber wenn es auch nur ansatzweise um eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums geht, ernten wir nur noch ein müdes Lächeln. Wo bleibt Ihr Mut und Ihre ernsthafte Bereitschaft zur Veränderung ungerechter Verhältnisse, für die wir Sie schließlich gewählt haben? Kapitulation aus Angst vor Gegenwind?

Nur ein Beispiel: Wenn Sie den Hebesatz für die Grundsteuer B von 360 Punkten auf 410 Punkte anheben, dann kostet das die Besitzer eines durchschnittlichen Einfamilienhauses in Oldenburg ca. 30 DM mehr im Jahr – bringt aber für die Stadt Mehreinnahmen von über fünf Millionen DM.

Wir fordern Sie auf: Setzen Sie ein offensives Zeichen für mehr soziale Gerechtigkeit! Setzen Sie bewußt und gegen den irrationalen Trend zum Kaputtsparen eine Million mehr ein für die soziale Infrastruktur in Oldenburg!

Wir fordern Sie auf:

Nehmen Sie alle Streichungen und Kürzungen im Sozial-, Selbsthilfe- und Bildungsbereich zurück! Verweigern Sie allen weiteren Kürzungsvorschlägen in diesem Bereich Ihre Zustimmung! Protestieren Sie mit uns gegen das Spardiktat von Bund und Ländern: Setzen Sie bewußt ein offensives Zeichen für den Erhalt und den Ausbau freiwilliger und sozialer Leistungen auf kommunaler Ebene! Eine Million mehr für soziale Gerechtigkeit!

Dieser Brief geht auch: an den Oberbürgermeister Herrn Poeschel, die regionale Presse.

Unterzeichnende Einrichtungen:

BEKOS, Beratungs- und Koordinationsstelle für Selbsthilfegruppen e.V., Wildwasser e.V., Beratungsstelle gegen sexuellen Mißbrauch an Mädchen, Stadtteiltreff Kreyenbrück, Kirchengemeinde Osternburg, Donna 45 e.V., Bildung & Werkstätten von erwerbslosen Frauen, ALSO, Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg e.V., Autonomes Frauenhaus Oldenburg e.V., Verein für Konfliktschlichtung e.V., Therapie- und Beratungszentrum für Frauen Oldenburg e.V., Autonomes Mädchenhaus Oldenburg e.V., Pro Familia Beratungsstelle Oldenburg

 

 
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