Oldenburger STACHEL Ausgabe 1/01      Seite 15
 
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Berliner Polizei stürmt Therapiezentrum für Folteropfer XENION

Ein 17jähriger kurdischer Flüchtling stürzte sich aus Angst vor Abschiebung in Panik aus dem Fenster und erlitt lebensgefährliche Verletzungen

Im Berliner XENION - Psychotherapeutische Beratungsstelle für politisch Verfolgte und Folteropfer - kam es zu einem tragischen und empörenden "Zwischenfall", als ein Einsatzkommando der Polizei mit gezogenen Waffen die Therapieeinrichtung stürmte. Dort vermutete die Polizei den 17jährigen kurdischen Flüchtling Davut K.. Davut, als politischer Flüchtling aus der Türkei nach Deutschland gekommen, wurde auf Bitten des Ausländerbeauftragten der Stadt Bitterfeld wegen manifester psychischer Symptome aufgrund schwerer Folterungen, in der Beratungsstelle XENION behandelt. Er gehört zum Personenkreis von durch Folter schwer traumatisierten Flüchtlingen - in der Türkei drohen ihm erneute Folter und nach bestätigten Angaben eine Haftstrafe von 11 Jahren und 6 Monaten. Über seinen Asylantrag ist noch nicht entschieden.

Das Überfallkommando

Am Tag des Überfalls hätte er um 10 Uhr einen Behandlungstermin gehabt, kam jedoch erst gegen 10.30 Uhr in sehr aufgeregtem Zustand in der Beratungsstelle an. Er erklärte sein verspätetes Erscheinen mit einer Fahrkartenkontrolle, die ihn aufgehalten habe. Dabei seien ihm alle Papiere abgenommen worden, u.a. auch die aktuelle Terminvereinbarung mit Ort, Zeit und Datum! Er befürchtete, in die Türkei abgeschoben zu werden. Bei der Ankündigung der BVG-Beamten, daß man die Polizei rufen werde, habe er die Flucht ergriffen und sich zu XENION begeben, obwohl er sehr besorgt war, daß die Polizei ihm folgen könnte. Nach Einschätzung des behandelnden Psychotherapeuten und einer kontaktierten Rechtsanwältin sollte diese Situation jedoch nicht als Grund für eine Fahndung ausreichen. Es gelang zunächst, den Jungen zu beruhigen.

Kurze Zeit darauf klingelte es am Hauseingang. Der behandelnde Psychotherapeut und Leiter von XENION, Herr Koch empfing zwei Polizeibeamte im Treppenhaus, um den Grund für den Besuch zu erfahren. Da er lediglich zur Auskunft erhielt, es gäbe Hinweise, daß sich eine gesuchte Person in den Räumen der Beratungsstelle aufhielte, verweigerte er den Beamten den Zutritt. Unter Hinweis auf sein Hausrecht und den besonderen Charakter von XENION als psychotherapeutische Einrichtung für traumatisierte Flüchtlinge sowie unter Berufung auf seine Schweigepflicht als behandelnder Psychotherapeut verweigerte er außerdem die Auskunft darüber, wer sich in den Räumen aufhielt. Von den Beamten wurde, auch auf ausdrückliches Verlangen hin, weder ein Haftbefehl noch ein schriftlicher Fahndungs- oder Durchsuchungsbefehl vorgelegt. So konnten sie zunächst abgewiesen werden.

Kurze Zeit später klingelte es erneut, und nachdem nicht sofort geöffnet wurde, wurde gegen die Eingangstür gehämmert, daß der Eindruck entstand, die Tür werde eingetreten. Herr Koch öffnete erneut, und verweigerte wiederum den mittlerweile 6 PolizistInnen den ohne Rechtsgrundlage eingeforderten Zutritt. Trotz deutlicher Warnungen hinsichtlich der Gefährdung von KlientInnen von XENION, drängten die BeamtInnen in den Eingangsbereich der Beratungsstelle. Als ein Geräusch zu hören war, drangen sie laut schreiend und mit gezogenen Waffen überfallartig in die Therapieeinrichtung ein. Herr Koch forderte sie auf, sofort die Waffen wegzustecken. Er warnte erneut vor möglichen Panikreaktionen der KlientInnen und erklärte sich angesichts der bedrohlichen Situation bereit, die BeamtInnen durch die Räume zu führen. Ohne Beachtung stürmten die PolizistInnen brüllend und mit gezogenen Waffen die Räume, in denen sich der Gesuchte aber nicht fand. Eine Beamtin öffnete das Fenster zum Lichthof und entdeckte dort den schwer verletzten Davut K.

Noch während des ungeheuerlichen Einsatzes wurden die MitarbeiterInnen von XENION beschuldigt, die Verantwortung für den Vorfall zu tragen! Herr Koch soll nun wegen unterlassener Hilfeleistung und Behinderung polizeilicher Ermittlungen strafrechtlich belangt werden. Selbst dem Dolmetscher, der mit dem Verletzten sprach und sich bis zum Abtransport ins Krankenhaus um ihn kümmerte, wurden Platzverweis und Festnahme angedroht.

XENION

Nicht nur die MitarbeiterInnen von XENION sind bestürzt und entsetzt über das Vorgehen der Polizei. Der Tatvorwurf des Fahrens ohne gültigen Fahrschein steht in keinem Verhältnis zu diesem gewaltsamen Eindringen in die (Schutz-)Räume einer Therapieeinrichtung für Überlebende extremer Gewalt! Die ausdrücklichen Warnungen und Hinweise auf die besondere Schutzbedürftigkeit der Einrichtung und ihrer PatientInnen derartig zu übergehen, ist mehr als grob fahrlässig, gefährlich und jenseits aller Verhältnismäßigkeit. Die Terminkarte, die Davut von den Beamten abgenommen worden war, hätte (wenn schon) andere Formen der Ermittlung zur Folge haben müssen, als ein solches "Überfallkommando". PolizeibeamtInnen müßte bekannt sein, daß Menschen, die sich einer psychotherapeutischen Behandlung nach schwerer Traumatisierung unterziehen, nicht in der Lage sind, eine derartige retraumatisierende Belastung auszuhalten. Menschen, die aufgrund von Verfolgung, Folter oder Krieg an behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankungen leiden, sind keine "gefährlichen Kriminellen"!

Die Aufgabe von XENION ist die psychotherapeutische Behandlung und Beratung politisch verfolgter Flüchtlinge und Folteropfer. Für seine Arbeit wird der Verein vom Berliner Senat, der Europäischen Union und dem UN-Flüchtlingswerk UNHCR finanziell unterstützt, und genießt seit Jahren hohe Anerkennung für seine fachliche Arbeit und sein humanitäres Engagement.

Polizeiaktionen wie am 24. November zerstören nicht nur die physische und psychische Gesundheit einzelner Flüchtlinge und das Vertrauen in die Einrichtung, das die wichtigste Basis der Arbeit von XENION darstellt. Sie zerstören auch das vielbeschworene menschliche Klima in diesem Land, in dieser Stadt, in dieser Zeit! Auch und gerade die politisch Verantwortlichen, die noch Anfang des Monats salbungsvoll zum "Aufstand der Anständigen" riefen, sind zu Stellungnahmen und zum Handeln aufgefordert. Es muß aufgeklärt werden, wie es zu den eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen und den unverhältnismäßigen Übergriffen kommen konnte. Es müssen Konsequenzen gezogen und auch eine Einrichtung wie die Polizei deutlich in ihre Schranken verwiesen werden, wenn sie ihrem Auftrag, Recht und Demokratie zu schützen, selbst nicht gerecht wird.

juLa

 

 
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