Oldenburger STACHEL Ausgabe 10/01      Seite 5
 
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Entfernung schützt nicht mehr

Das Entsetzten über die Terroranschläge in den USA geht in die Tiefe und wirkt bedrückend in uns nach. Diese beunruhigenden Tage nach dem Gewalt-Terror machen deutlich, daß es für nichts mehr eine Bestandsgarantie gibt. Was wird morgen passieren?

Am 11. September 2001 wurden die zahlreichen Facetten der Globalisierung um eine häßliche Variante schmerzlich erweitert. Der Gewalt-Terror hat sich einer globalisierten Welt angepaßt: Entfernung schützt nicht mehr.

Terror ist auch das Symbolhafte. Die beiden Türme einer "Kathedrale" der grenzenlosen Kapitalströme wurden als Ziel von Terroristen ausgewählt und sie trafen doch die okzidentale Welt als Ganzes. In doppelter Hinsicht wurde dabei deutlich, daß Entfernungen keine Rolle mehr spielen.

Probleme und Risiken beziehen sich nicht mehr auf begrenzte Räume. Was in einem Land geschieht, wirkt sich auf andere aus: Terrorismus, ethnische Konflikte, Klimaveränderungen, technische Katastrophen, Überbevölkerung, Armut, Migration, Zerfall von Staaten, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Verteilungskämpfe um natürliche Ressourcen, Krankheiten. Was auch immer wo geschieht, es betrifft alle Menschen! Diese Welt ist ein Netzwerk - verknüpft und voneinander abhängig.

Daraus resultiert: Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand kann kein Staat mehr im Alleingang realisieren. Es ist heute absurd, Probleme mit weltweiter Wirkung innerhalb lokaler Räume lösen zu wollen. Ebenso absurd ist es, neue Grenzen zu errichten: es geht um Öffnung nach außen. Dabei sind Konfliktlösungskonzepte gefragt, die eine demokratische Partizipation aller Beteiligter ebenso einschließt wie die Respektierung der Menschenrechte und Toleranz vor anderen Lebensformen.

Am Anfang aber steht die notwendige Einsicht, daß Gegengewalt in Form militärischer Intervention kein moderates Mittel des 21.Jahrhunderts mehr ist, besonders wenn das Ziel einer sicheren - d.h. friedlicheren - Welt mit zivilen Mitteln erreicht werden kann. Militärisch ausgelebte Rachegelüste sind das Erbe einer überkommenen Weltordnung. Es darf kein "1. Krieg des 21. Jahrhunderts" ausgerufen werden - Krieg beginnt mit Worten.

Die Furcht vieler Menschen vor Krieg, die diese Tage zunehmend spürbar ist, zeigt eine große Sehnsucht nach friedlichen Lösungen. Es ist im Sinne einer zukunftsgewandten Zivilgesellschaft, daß Konzepte für kreative Möglichkeiten gewaltloser Transformation gefunden werden. Hier Steuergelder zu investieren macht Sinn und Hoffnung und wäre zudem ein Zeichen, daß Politik lernfähig ist. Statt dessen wurde in diesen Tage beschlossen, den Verteidigungshaushalt der Bundesrepublik Deutschland um jährlich 1,5 Mrd. DM aufzustocken. Solch ein naiver Aktionismus zeugt nicht von politischem Weitblick. Waffen ersetzten keinen kulturellen Dialog.

Die Aufforderung zum offenen Kulturdialog ist aktueller denn je. Trotz Globalisierung gibt es keine homogene Weltgesellschaft; die globale Gesellschaft basiert auf eine Vielfalt der Weltkulturen. Deshalb sind die Begegnungen der Kulturen der Welt notwendig, um die Sensibilität für die Unterschiede und die verschiedenen Fähigkeiten zu lernen. Kommunikation ist dabei dringend notwendig angesichts unterschiedlicher Werte und Standards. Pauschalierende Kategorisierungen in "die Guten" und "die Bösen" unterwandert diese notwendigen Dialoge. Eine Rhetorik, die undifferenziert von Krieg, von dem Westen als der bedrohten "zivilisierten Welt" spricht, Kreuz- oder Feldzüge ankündigt und unsensibel andere Kriegsmetaphern benutzt, bereitet die Bevölkerung verbal auf gewollte Kriegshandlungen vor.

Dabei könnte dem Gewalt-Terror mit aller Entschlossenheit Paroli geboten werden. Dazu bedarf es keiner Kriegshandlungen und Beschneidung von Bürgerrechten. Sind sich die Staaten wirklich einig und meinen es ernst damit, dann gelingt dieses mit einem umfangreichen Katalog von zivilen Druckmitteln. Derzeit laufen Kriegsvorbereitende Militäraktionen an, die den Codenamen "Grenzenlose Gerechtigkeit" ("Infinite Justice") tragen. Wir brauchen statt dessen weltweite Standards für eine tatsächlich grenzenlose Gerechtigkeit, dann verliert auch der Gewalt-Terrorismus seine Wurzeln. Eine zukunftsgewandte Zivilgesellschaft hat jetzt die Chance, deutlich zu machen, daß militärische Vergeltungsschläge Politik von gestern ist und das eine blinde Bündnistreue "ohne wenn und aber", wie sie diese Tage propagiert wird, nicht den friedlichen Ansprüchen einer zivilen Gesellschaft genügt. Solidarität ist gut. Solidarität ohne Nachdenken würde fatale Folgen haben. Ein in seinen Folgen unabsehbarer "neuer Krieg" bringt wieder und wieder Terror gegen Unschuldige. Wir brauchen intelligente Lösungen und keinen symbolischen Aktionismus. Eine zukunftsgewandte offene Gesellschaft braucht grenzenlose Gerechtigkeit - ohne wenn und aber.

Und die und der Einzelne? Der griechische Philosoph Diogenes von Sinoge sagte, daß er ein "kosmopolites" sei, also ein Bürger der Welt. Ein Bürger dem klar ist, daß wir eine gemeinsame Welt teilen und aufgrund unseres Handelns voneinander existentiell abhängig sind.

Diese Einsicht ist ein gutes Fundament für "gandhisches Denken". Auf das Bibelzitat "Auge um Auge, Zahn um Zahn" antwortete Mahatma Gandhi: "Ein Auge für ein Auge macht die ganze Welt blind."

Gandhi hat bewiesen, daß es möglich ist, ohne Gewalt zu kämpfen und doch resolut sein Ziel zu erreichen.

Vergegenwärtigen wir uns: Nicht die Systeme handeln, sondern die Menschen! Krieg oder Frieden? Es sind die Worte, die den Taten vorauseilen. Alle sollten in diesen Tagen achtsam ihre Worte wählen - und auch den Hintergründen eine Schweigeminute schenken.

Thomas Betten

 

 
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