Oldenburger STACHEL Ausgabe 2/02      Seite 6
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Wie den Knoten lösen?

Verbrechen. Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Viele. Viele mußten wir sehen. Viele haben wir gesehen. Zu viele. Zu viele haben wir erduldet. Zu viele werden wir sehen. Zu viele werden wir erdulden. Weiß mensch es? Mensch weiß es, mensch ist traurig es zu wissen. Trotzdem weiß mensch es weiter. Es ist weiter so. Wissen soll Macht sein? Mensch weiß und ändert doch nichts. Warum? Warum nutzt mensch die gegebene Macht nicht? Mensch sieht, mensch weiß, mensch scheint zu verstehen. Aber tut mensch auch? Tut mensch auch endlich? Nein! Und Wann? Seit wann fragt mensch sich, wann mensch endlich etwas tut? Zu lange. Zu lange sieht mensch, weiß mensch und scheint zu verstehen. Zu lange tat mensch nichts, zu lange wird mensch nichts tun. Niemand. Mensch tut so, als würde mensch tun. Doch tut sich denn etwas? Nein! Auch das ist gewiß. Schade. Gewißheit kann weh tun. Viele Dinge tun weh, die anderen werden vergessen. Kann denn Schmerz verändern? Das wäre schön. Doch bei soviel Schmerz hat es es sich nie geändert. Warum sollte es das jetzt plötzlich? Schmerz ist zu ertragen, zu ertragen durch Vergessen. Wer vergißt, weiß nicht, was es war, was schmerzte. Verändert wird nichts. Es scheint so als ob, aber es ändert sich nichts. Alles bleibt wie es war, Haß, Gewalt, Tod, Wunden, Verachtung, Blut, Dummheit. Erduldete Dummheit! Wenn alle nur ein bißchen verstünden, würde es sich von allein ändern? Vielleicht. Irrelevant, denn kaum einer versteht. Kaum einer wird verstehen. Nie. Schade. Besser wäre die Welt. Besser kann sie nur werden. Doch besser wird sie nicht werden. Unmöglich. Möglichkeiten. Es gäbe viele. Alle unausgeschöpft. Sind sie. Bleiben sie. Keiner bleibt nirgendwo. Überall könnte es so schön sein. Es könnte. Nein es könnte nicht. Unmöglich. Schade. Traurig. Ja traurig macht es. Aber so ist das mit der Realität. Traurig ist sie. Mensch muß sich abfinden. Mensch glaubt sich abfinden zu müssen. Doch mensch darf nicht!

Menschen schauen des öfteren nach "oben" und verstehen nicht. Es werden dort Entscheidungen getroffen, die unverständlich sind. Manchmal denkt mensch sich: "Ja, jetzt, das könnte etwas werden, das könnte etwas bewirken." Aber nie, niemals läuft es so, wie mensch glaubt, daß es laufen könnte. Kann es denn nicht so laufen? Was steht dem im Weg? Es ist nicht zwangsläufig die Unfähigkeit der jeweiligen Regierung zu regieren, es ist vielmehr und hauptsächlich die unersättliche Gier nach Macht. Früher schickte mensch mensch auf das Schlachtfeld, um Reiche zu vergrößern, zu verteidigen. Heute scheint das nicht mehr nötig. Was die Gebietsverteilung angeht, wirkt alles wie geregelt. Heute in unserer "zivilisierten Welt" schlachte mensch sich nicht mehr gegenseitig ab, heute würde kräftig in die Tasche gegriffen. Einige glauben, daß wir das Wahre sind, zivilisiert, menschlich ... und in "der besseren Welt". Alles andere sei verwahrlost, unmenschlich ... und warum? Nein, nicht einmal warum, diese Frage stellt sich gar nicht. Denn es gibt keinen Unterschied zwischen den Menschen. Unterschiedliches Verhalten resultiert aus extremen Unterschieden der jeweiligen Lebenssituation, aber verhältnismäßig ist das Verhalten der Menschen gleich, die einen leben in Armut und wollen überleben, leben. Die anderen leben in scheinbar selbstverständlichem Wohlstand und wissen nicht, was es bedeutet, um das nackte Überleben zu kämpfen. Aber daß wir deshalb in irgendeiner Weise besser sind, daß wir deshalb zu entscheiden haben, wie und ob die anderen zu leben haben? Das ist doch Schwachsinn! Es macht mensch wütend! Was? Das ist nicht zu erklären, das ist zu viel. Die gesamte Gesellschaft, die immer mehr Menschen krank macht, so krank, daß sie keinen anderen Ausweg sehen als den, sich aus dieser Gesellschaft zu entfernen ... für immer und endgültig. Dabei sind diese Menschen gar nicht krank. Krank ist nur diese unsere Gesellschaft. Sie ist dafür verantwortlich, daß die und gerade die, die verstehen, sich ihr entziehen, weil sie verstehen. ... Einer von vielen Knoten, ich habe ihn geöffnet und versucht, ihn, das heißt seinen Inhalt, zu verstehen und ihn hiermit mitzuteilen...

Ein Mensch unter vielen!

Der gordische Knoten

Wir kennen ihn noch aus der Geschichtsstunde, den makedonischen Alexander. Und auch die Anekdote mit dem berühmten gordischen Knoten kennen wir noch, die dem jugendlichen Eroberer nachgesagt wird. Als er in Gordium einzog und von dem kunstvoll verschlungenen Knoten hörte, den bislang kein Mensch hatte aufknüpfen können, ließ er sich stracks hinführen, besah sich das berühmte Ding von allen Seiten, bedachte den Orakelspruch, der dem Auflöser des Problems großen Erfolg und weithallenden Ruhm verhieß, zog kurzentschlossen sein Schwert und hieb den Knoten mitten durch.

Naja. Die Soldaten Alexanders jubelten natürlich. Und man pries die Intelligenz und die Originalität des jungen Königs. Das ist nicht gerade verwunderlich. Eines muß ich allerdings ganz offen sagen, - meine Mutter hätte nicht dabei sein dürfen! Wenn meine Mutter daneben gestanden hätte, hätte es Ärger gegeben. Wenn ich als Junge, kein Haar weniger originell und intelligent als Alexander, beim Aufmachen eines verschnürten Kartons kurzentschlossen mein Schwert, beziehungsweise mein Taschenmesser zog, um den gordischen Bindfaden zu durchschneiden, bekam ich mütterlicherseits Ansichten zu hören, die denen des Orakels diametral widersprachen und die jubelnden Truppen aus Makedonien außerordentlich verblüfft hätten. Alexander war bekanntlich ein großer Kriegsheld, und die Perser, Meder, Inder und Ägypter pflegten Tag und Nacht vor ihm zu zittern. Nun, meine Mutter hätte sich diesem Gezitter nicht angeschlossen. "Knoten schneidet man nicht durch!" hätte sie in strengem Tone gesagt. "Das gehört sich nicht, Alex! Strick kann man immer brauchen!"

Und wenn Alexander der Große nicht so jung gestorben, sondern ein alter, weiser Mann geworden wäre, hätte er sich vielleicht eines Tages daran erinnert, und bei sich gedacht: "Diese Frau Kästner, damals in Gordium, hatte gar nicht so unrecht. Knoten schneidet man nicht durch. Und wenn man es trotzdem tut, sollten die Soldaten nicht jubeln. Und wenn die Soldaten jubeln, sollte man sich wenigstens nichts darauf einbilden!"

Erich Kästner

Über den Nachruhm

Den unlösbaren Knoten zu zersäbeln, gehörte zu dem Pensum Alexanders. Und wie hieß jener, der den Knoten knüpfte? Den kennt kein Mensch.

Doch sicher war es jemand anders ...

Erich Kästner (1950)

Es ist wirklich merkwürdig, nicht?

Da setzt sich jemand auf die Hosen und bringt mit viel Fleiß, Gescheitheit und Geschick einen Knoten zustande, der so raffiniert geschlungen ist, daß ihn kein Mensch der Welt aufknüppern kann, und den, der das Kunststück fertigbrachte, hat uns die Geschichte nicht überliefert! Aber wer das Taschenmesser herauszog, das wissen wir natürlich! Die Historiker haben seit Jahrtausenden eine Schwäche für die starken Männer. Auf steinernen Tafeln, auf Papyrusrollen, auf Pergamenten schwärmten sie von Leuten, welche die Probleme mit Schwertstreichen zu lösen versuchten. Davon zu berichten, wie sich die Fäden des Schicksals unlösbar verschlangen, das interessiert sie viel weniger. Und darüber zu schreiben, wie seltsame Idealisten solche Schicksalsverknotungen friedlich entwirren wollten, ödete sie an. Dem Zerhacken der Knoten gilt ihr pennälerhaftes Interesse, und sie haben nicht wenig dazu beigetragen, die alten gordischen Methoden in Ansehen und am Leben zu erhalten.

Wir haben gerade wieder einmal das Vergnügen gehabt, persönlich dabei gewesen zu sein, als so ein Knoten zersäbelt, statt mühsam aufgedröselt wurde. Es war kolossal interessant. Die Haare stehen uns jetzt noch zu Berge, soweit sie uns nicht ausgegangen sind. Und während sich auf internationalen Konferenzen Abgesandte aus aller Welt abquälen, die neuen Knoten zu entwirren, die sich allenthalben bilden, sitzen, nicht zuletzt bei uns, schon wieder Anhänger der Säbeltheorie herum und knurren: "Ist ja alles Quatsch! Wozu lange knüppern? Durchhacken ist das einzig Senkrechte!"

Ich finde, man sollte wirklich langsam dazu übergehen, statt der Knoten die Leute durchzuhauen, die solche Ratschläge geben.

Erich Kästner

(aus: Der tägliche Kram)

 

 
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