Oldenburger STACHEL Nr. 234 / Ausgabe 5/02      Seite 4
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Ja, warum nur wählen?

Immer, wenn ich zur Landesbibliothek am Pferdemarkt fahre - und das ist zur Zeit täglich - komme ich an dem Büro der SPD in der Huntestraße vorbei. Dann werfe ich einen etwas traurigen Blick auf ein schmutziges, graues Gebäude, dem nur das Geschmiere eines vermutlich enttäuschten Sympathisanten etwas Farbe verleiht. Lieblos gestaltete Schilder verraten dem Passanten, daß es sich hier um den Sitz des Bezirks und des Unterbezirks der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands handelt. Die Rolläden vor den Fenstern im ersten Stock sind heruntergelassen und die Tür ist verschlossen. Der Betrachter erfährt mit keinem Wort, wann und wie die Funktionäre etwa zu erreichen sind, denn das ganze Arrangement signalisiert nur ein Anliegen: Laßt uns bloß in Ruhe!

Das also ist, um es im modernen Deutsch zu sagen, das "outfit" einer politischen Gruppierung, die sich als "Volkspartei" versteht. Man sollte meinen, daß eine solche einen Laden in der Innenstadt mietet (wie es die Grünen beispielsweise getan haben) (meist ist da aber zu - dort fehlt mir auch noch was, als daß ich sie wählen könnte, d. LektorIn), in den jeder hineinspazieren kann, um seine Klagen oder Anliegen vorzubringen - aber ein solcher existiert nicht. Übrigens gilt das auch für die CDU und die FDP - alle drei Parteien verkriechen sich in irgendwelchen Büros, die schwer zu finden und kaum zugänglich sind - offenbar haben die Volksparteien Angst vor dem Volk.

Und was heißt überhaupt
"Volkspartei"?

Nur zwei Prozent der Stimmbürger, so habe ich irgendwo gelesen, gehören überhaupt einer solchen Organisation an - also eine winzige Minderheit. Und die anderen? Ich besuchte vor einigen Tagen eine Versammlung in der Evangelischen Studentengemeinde, in der es um die "Sicherheits"gesetze des Innenministers Schily ging. Die jungen Leute diskutierten das politische Thema engagiert und kritisch - aber gehörte irgendeiner von ihnen einer Partei an? Offensichtlich nicht, denn allen war gemeinsam, daß diese Form des Engagements in ihrem Denken keine Rolle spielte. Demonstrationen? Aber ja! Aktionen? Sofort - aber Mitarbeit in der SPD oder gar CDU oder FDP? Dieser Gedanke brachte nur schweigende Ablehnung hervor.

Ist das so verwunderlich?

Ich kenne ja nun das Innenleben der CDU und der SPD aus eigener Erfahrung und weiß, daß die innerparteiliche Demokratie in beiden Organisationen ein Witz ist, wobei sich, jedenfalls zu meiner Zeit, die SPD insofern positiv von der CDU unterschied, als es in ihr noch drei- oder viermal im Jahr eine Mitgliederversammlung gab, in der der Genosse Arsch im Zweifel Gelegenheit hatte, unter Punkt "Verschiedenes" sein Anliegen vorzubringen. Ah, und dann gab es noch etwas: Da der Ortsverein Eversten etwa so viele Delegierte zum Unterbezirksparteitag stellte als Mitglieder an der Versammlung teilnahmen, brachte ich es sogar zum Rang eines Ersatzsdelegierten, durfte also an dem erlauchten Kongreß teilnehmen. Damit sind aber schon die Möglichkeiten eines gewöhnlichen Parteimitglieds erschöpft, was bedeutet, daß der normale Genosse an der innerparteilichen Willensbildung überhaupt nicht mehr teilnimmt - warum auch? Er wird sowieso nicht gehört.

ParteiuntertanInnen

Warum treten denn überhaupt noch Untertanen dieser Republik einer Partei bei? Oh, es gibt Gründe: Wer beispielsweise Redakteur im öffentlich-rechtlichen Rundfunk werden will oder aber im Schuldienst aufsteigen möchte, eine Hausmeisterstelle anstrebt, überhaupt irgendeinen Vorteil sucht, tritt besser der zuständigen Partei bei und verstaut zugleich sein Mitgliedsbuch irgendwo ganz tief unten in seiner Seekiste, denn eines ist klar: der Karrierist kassiert und schweigt, am besten bleibt er aus den Versammlungen also ganz weg, kümmert sich also um den Laden nicht mehr. Wer dagegen ein Anliegen hat und das vertritt, stört nur, denn Entscheidungen fallen in den Parteien im kleinen Zirkel der internen Eliten. In diese Kreise wird man aber nur aufgenommen, wenn man aus irgendwelchen Gründen wichtig ist, beispielsweise eine Gewerkschaft oder einen Verband vertritt, wenn man sich durch eine Spende in die Gruppe einkaufen kann, oder wenn man auf Grund persönlicher Beziehungen kooptiert wird.

Kungelparties

Die Parteien bilden also Gruppierungen, die aus einem mafiosen Geflecht von Untergruppen bestehen, die nach außen hin nicht erkennbar sind, aber die Macht im Staate in ihren Händen monopolisiert haben. Diese Cliquen kungeln untereinander die Kandidatenlisten zu den jeweiligen Wahlen aus, denen dann das Wahlvolk zustimmen kann oder auch nicht, was letztlich egal ist, denn ob 100 oder 10 Prozent der Stimmbürger an den Wahlen teilnehmen - die Plätze in den Parlamenten werden immer besetzt.

Wie funktioniert das trotzdem?

Was aber hält die Parteien letztendlich zusammen? Das, was jeden Betrieb in Gang hält: das Gewinnstreben. Dabei gilt: Wer ein Haus bauen will, braucht dazu eine Qualifikation, aber wer Deutschland regieren möchte, muß sich nur wählen lassen. Und wer einmal die entsprechenden Ämter innehat, verdient hervorragend - und das ganz legal. Als Beispiel nenne ich Franz (Josef) Strauß: Er kehrte mit einem verschlissenen Wehrmachtsmantel aus dem Krieg zurück und starb als hundertfacher Millionär - und dabei war er sicherlich ebenso wenig korrupt wie Otto v. Bismarck, der seine politische Laufbahn als verschuldeter Gutsbesitzer begann und dann zu einem schwerreichen Fürsten aufstieg.

Und das Gemeinwohl?

Gewiß, wenn das dem Verdienst nicht im Wege steht, ja, wenn sich das Einkommen steigern läßt, indem man das allgemeine Interesse fördert, dann wird ein Politiker den Nutzen des deutschen Volkes mehren und Schaden von ihm wenden - aber wie wird er sich entscheiden, wenn das Allgemeininteresse in Konflikt gerät mit dem Partikularinteresse seiner Clique, von der er abhängt? Dreimal darf man raten.

In den Talkshows wird gebetsmühlenartig wiederholt, daß wir die Parteien benötigen, weil nur durch sie die Demokratie funktioniere.

Wirklich?

Schauen wir uns doch einmal an, wie diese Parteiendemokratie aussieht. Ihr Wesen besteht darin, daß die Entscheidungen im Parlament fallen. Dort aber sitzen die Delegierten der Parteien, die sich hier als Fraktionen organisiert haben. Theoretisch sind die Abgeordneten in ihren Entscheidungen nur ihrem Gewissen unterworfen und an Weisungen nicht gebunden - so ähnlich heißt es in der Verfassung. Tatsächlich aber unterliegen die Mitglieder des Hohen Hauses dem Fraktionszwang. Was das bedeutet, mag folgendes Rechenbeispiel sagen: Nehmen wir an, daß das Parlament 600 Abgeordnete zähle. Davon bilden 301 Personen die absolute Mehrheit. Wenn wir es nur mit einer Regierungsfraktion zu tun haben, dann bedeutet der Fraktionszwang, daß eine Vorlage dann beschlossen wird, wenn bereits 152 Abgeordnete, also ein Viertel des Hauses, dafür stimmen. Denn die Minderheit der Regierungsfraktion ist in diesem Falle - Gewissen hin, Gewissen her - angewiesen, das zu billigen, was sie zuvor abgelehnt hat. Nun aber gehören in unserem System die Mitglieder der Regierung der Fraktion an. Ein Block von etwa 40 Ministern, Staatsministern und parlamentarischen Staatssekretären entscheidet also in eigener Sache. Um die Mehrheit in der Fraktion zu erlangen, braucht mithin jedes Regierungsmitglied nur drei andere Abgeordnete, die, aus welchen Gründen auch immer, mit ihm stimmen.

Demokratie?

Doch treiben wir das "Spiel" etwas weiter, indem wir unterstellen, daß zwei Parteien die Regierung tragen, die eine habe 101 Abegordnete und die andere 50. Wenn von dieser zweiten, der kleineren Partei, 26 Abgeordnete eine Vorlage ablehnen, dürfen ihr die anderen 275 Politiker der beiden Mehrheitsfraktionen nicht zustimmen, auch wenn sie der Meinung sein sollten, daß das eine gute Sache wäre. Und noch absurder wird das parlamentarische Spiel, wenn wir uns auf die Ebene der Ausschüsse begeben, die ja ein Spiegelbild des Plenums sind. Unterstellt, eine solche Gruppe habe 30 Mitglieder, von denen 16 auf die Regierungsmehrheit entfallen, von denen 5 wiederum der kleinern Fraktion angehören. Da eine Vorlage, die einem Ausschuß überwiesen wurde, nur dann dem Plenum wieder vorgelegt wird, wenn diese sie gebilligt hat, genügen in diesem Falle drei Abgeordnete - nämlich die Mehrheit der kleineren Regierungsfraktion -, um eine Vorlage zum Scheitern zu bringen, die von allen anderen 597 Abgeordneten gewünscht wird.

Noch einmal: Demokratie?

Doch weiter im Text - und zwar mit einer Anekdote, die ein halbes Jahrhundert alt ist. Irgendwann in den 50er Jahren trifft der CSU-Abgeordnete Hubertus Prinz zu Löwenstein im Bundeshaus einen alten Freund, der ihm stolz berichtet: "Ich vertrete hier die Stahlindustrie!" "So?" antwortet der Prinz, "Ich vertrete hier das Volk!" Zum Hintergrund muß man wissen, daß damals schon der Deutsche Bundestag ein Gesandtenkongreß der Verbände war. Da der Bundesrat das Verfassungsorgan der Ministerial-Bürokratie ist, erhebt sich also in der Tat die Frage: Wer vertritt eigentlich das Volk.

Die richtige Antwort: Niemand.

Die Bundesrepublik Deutschland ist nämlich, wenn ich das in eine Formel fassen soll, eine Oligarchie unter Einschluß gewisser plebiszitärer Elemente, die man als Wahlen bezeichnet. Dieser simple Sachverhalt muß aber möglichst verschleiert werden. Denn wenn das heraus käme, würden sich die Untertanen der Republik fragen, warum sie noch zu einer Wahl gehen sollen, die nichts entscheidet? Also muß man so tun als ob - und das geschieht ja auch.

Mit anderen Worten: Was die Schüler so in ihrem Staatsbürgerkundeunterricht lernen, stimmt hinten und vorne nicht. Die Menschen spüren das und werfen deshalb den Vertretern der Parteien zu Recht vor, daß sie sich - ich will mich höflich ausdrücken - stets etwas anderes meinen, als sie sagen. Solche Umgangsformen lassen aber ein Vertrauen nicht aufkommen. Es kann vorhanden sein, weil das ganze System so angelegt ist, daß die tatsächliche Situation verschleiert werden muß.

Was aber ist zu ändern?

Zunächst ein Wort zum Grundgesetz: Man kann an dem Regelwerk vieles zu Recht kritisieren, aber es ist im Volk anerkannt. Und das ist ein Gut, das man nicht leichtfertig auf's Spiel setzen sollte. Im übrigen ließen sich die nötigen Reformen ins Werk setzen, indem man wenige Gesetze - vor allem die Geschäftsordnung des Bundestages und das Wahlgesetz - verändert. Aber das wird nicht geschehen, weil eine solche Reform nur durch die Parteien möglich ist. Die aber werden nichts tun, was die Macht der anonymen Apparate in Gefahr bringt. Die politischen Gruppierungen aber von innen heraus zu reformieren, ist vergebliche Liebesmüh, denn in ihnen haben nicht die Mitglieder die Macht, sondern die herrschenden Cliquen - was also ist zu tun?

Wer kann das wissen?

Ich weiß es nicht. Und ich bin glücklicherweise auch zu alt, um mich noch aktiv einmischen zu können. Aber was sollen die jungen Leute etwa in der Evangelischen Studentengemeinde tun? Auf keinen Fall darf man der Arroganz der politischen Akteure die Dogmatik derjenigen entgegensetzen, die meinen das Gute und Richtige für sich gepachtet zu haben. Es kommt darauf an, die Situationen in ihrer ganzen Kompliziertheit zu verstehen und sich auf langwierige und mühsame Entscheidungsprozesse einzulassen. Und das kann mit ganz banalen Fragen beginnen, etwa derjenigen, ob die SPD wirklich so dreckig und abweisend ist wie ihr Haus in der Huntestraße. Und wenn die Gnomen dort zu Pinsel und Farbe greifen, kann man sie vielleicht auch überreden, die Fenster zu öffnen, um frische Luft in die Büros zu lassen - ich will damit sagen: Zwingen wir die Parteibonzen trotz ihrer Arroganz, die wirklich unerträglich ist, dazu, auf die Fragen zu antworten, die diejenigen stellen, die nicht zur Clique gehören. Vielleicht läßt sich so ein Anfang machen.

Klaus Dede

 

 
  Differenzen zur gedruckten Fassung nicht auszuschließen. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Siehe auch Impressum dieser Ausgabe und Haupt-Impressum