Oldenburger STACHEL Nr. 236 / Ausgabe 8/02      Seite 16
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Nitrofen & Co. - Ende der Unschuld für "BIO"?

Seit Jahrzehnten unken mißtrauische und nicht informierte Menschen, daß man den "Bioprodukten" nicht trauen könne. Geschichten, in denen Batterie-Eier als teure Bioware angeboten werden oder notleidendes Bio-Getreide heimlich mit Fungiziden besprüht wird, begleiten jedes Gespräch über "Bio".

Konnte das bisher meist als Gerücht entlarvt werden oder betraf es gar keine zugelassenen Biobetriebe, so hat die Branche erstmals mit dem Nitrofen-Skandal einräumen müssen, daß sie Verunreiniungen durch Pestizide nicht mehr ausschließen kann, und zwar prinzipiell. Was aber unterscheidet dann noch die Naturwaren vom konventionellen Markt? Genügt es, sich jedenfalls generell auf der richtigen Seite zu wähnen, ohne im Einzelfall Garantien zu haben? Wie sollen Kunden ihre beträchtlichen Mehrausgaben noch rechtfertigen?

Der Sündenfall: Mischbetriebe nach europäischer Bionorm

Nitrofen & Co. gibt denjenigen Recht, die auf small is beautiful und auf geschlossene Kreisläufe setzen. BSE-verseuchtes Tiermehl kann nicht in Höfe eindringen, die ihr eigenes Viehfutter anbauen. Nitrofen kann nicht in Weizen gelangen, der ausschließlich durch die Hände von Naturkostbetrieben geht. Betrug wird erschwert, wenn die Ware regionale, kurze Wege geht - kriminelle Energie natürlich ausgenommen. Doch der Sündenfall der Biobranche ist die Zulassung von "Mischbetrieben". Es ist einfach grotesk, daß ein pestizidspritzender und kunstdüngerstreuender Landwirt sich das Bio-Label holen kann, wenn er ein Zehntel seines Betriebes nach europäischer Bionorm bewirtschaftet! Bekommt er für die Biokartoffel den mehrfachen Preis wie für die Grata brutal, liegt doch der Mißbrauch in der Luft. Genauso im verarbeitenden Gewerbe: für den Bäcker bedeutet der Griff in die BÄKO-Tüte statt in die Bio-Tüte eine Versuchung allein wegen der ungleich höheren Handelsspanne, und im Endprodukt ist kein Unterschied erkennbar. Werden die Waren zudem gemischt präsentiert, wer soll dann noch die Spreu vom Weizen trennen?

Basis der Naturkost: Arbeitsplätze mit ethischem Hintergrund

Diese Entwicklung läuft den Gründungsidealen der Naturwarenbranche entgegen. Damals nahmen unzufriedene VerbraucherInnen angesichts des gesundheit und ökologisch bedenklichen Warenangebotes die Sache selbst in die Hand und gründeten Erzeugungs-, Verarbeitungs- und Handelsbetriebe. Sie waren damit den Professionels überlegen, denn sie hatten die bessere Idee von Qualität und ethisch vertretbaren Produkten. Sie mussten vielleicht ökonomisch dazulernen, aber dafür brachten sie den Willen zur Erneuerung und Idealismus mit. Und sie haben es geschafft. Die Naturwarenbranche existiert, ihre Wirtschaftskraft ist bewiesen, sie hat Tausende Arbeitsplätze mit ethischem Hintergrund geschaffen, ihre Expansionsmöglichkeiten stehen außer Frage. Was sie jedoch zu Fall bringen kann, sind ökonomische Zwänge, die zu Kompromissen bei der Qualität führen. Das war den Gründungsvätern- und -müttern nicht unbekannt. Sie kritisierten den Markt nicht nur wegen mangelnder Güte, sondern sahen im Primat der Ökonomie generell den Treibriemen für eine korrupte Produktionsweise. Wo sich alles nur auf den unmittelbaren Gewinn ausrichtet, ist kein Platz für Qualität, kein Raum für höhere Werte, gehen gute Absichten schnell im Ellbogenkampf unter.

Leitbild Subsistenzwirtschaft im sozialen Netz

So gesehen war die Gründung von Biohöfen und Naturwarenbetrieben auch ein soziales Experiment. Die Loskoppelung vom Kapitalismus, heute Globalisierung genannt, waren Hoffnung und Ziel zugleich. Abkehr von der Konsumgesellschaft hieß die Parole, Subsistenzwirtschaft im sozialen Netz war das Leitbild. Nicht leben um zu arbeiten, sondern arbeiten um zu leben war angesagt. Was vielleicht blauäugig klingt, war doch um nichts weniger reflektiert als die heutige Antiglobalisierungs-Bewegung. Kein Wunder, daß einer ihrer Pioniere Jose Bové heißt, damals Gründer der Landkommunen im Larzac und heute eine ihrer Gallionsfiguren. Seine ganze Kritik gipfelt in dem Begriff "mal bouffe", zu deutsch etwa: Schlangenfraß. Das herrschende Wirtschaftssystem bringt den mal bouffe unvermeidlich hervor, strukturell bedingt. Folglich muß, wer den Schlangenfraß abschaffen und ökologisch konsumieren will, das ökonomische System ändern.

Ökologische Wirtschaft und Ernährung: saisonal und regional

Die Biokunden und -erzeuger der Pionierzeit waren in diesem Bewusstsein verbunden, ihr stillschweigender Gesellschaftsvertrag fußte auf der Absicht, mit kleinen funktionieren Wirtschaftskreisläufen den Markt zu unterlaufen, seine korrupte Wirtschaftsweise bloßzustellen. In diese Richtung muß auch auf den Nitrofen-Skandal reagiert werden: Weniger mit verschärften Kontrollen - das versucht auch die konventionelle Szene seit Jahrzehnten vergeblich - als mit mehr sozialer Transparenz. Regionale Wirtschaftsweise, Ab-Hof-Verkauf, Wochenmärkte, kleine Läden, persönliche Kontakte, Vertrauen ("Treu und Glauben" lautete einst der erste Grundsatz des Handelswesens), das muß die Hauptsicherung sein. "Mischbetriebe" bilden da keine Vertrauensbasis. Soziale Folgen müssen mehr gefürchtet sein als juristische Folgen, dann hat das System Erfolg. Ein anonymer europäischer oder globaler Markt kann niemals die Kontrollen bieten, die einen Mißbrauch ausschließen. Eine regionale Wirtschaftsweise hingegen bietet mehr Sicherheit in der Qualität und kommt durch weniger Verarbeitungsstufen und kürzere Wege ihren eigenen ökologischen Zielen näher.

Ingo Harms

 

 
  Differenzen zur gedruckten Fassung nicht auszuschließen. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Siehe auch Impressum dieser Ausgabe und Haupt-Impressum