Oldenburger STACHEL Nr. 245 / Ausgabe 12/03      Seite 2
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Nichts ist vergessen!

Niemand ist vergessen!

Wie könnten die schrecklichen 12 Jahre in Vergessenheit geraten? Doch, sie könnten. Deshalb gehen in Oldenburg durch eine Anregung von Dr. Klaus Dede seit vielen Jahren am 9.11. zur Erinnerung an die Geschehnisse in der Reichspogromnacht - von manchen immer noch "Reichskristallnacht" genannt - den Weg der Jüdischen Mitmenschen von der ehemaligen Polizeikaserne (heute Landesbibliothek) zum Gefängnis nach. Im folgenden Auszüge aus den Reden zum diesjährigen Erinnerungsgang von Hans-Jürgen Schöbel, Claudia Kodde und Oliver Hölzen am 10.11.03.

"Nichts weiter als Clowns.", so die Worte von Alex Goldschmidt, als Nazis eine Opernvorstllung in Oldenburg mit Marschieren und Gebrüll störten.

"Diese Rabauken sind nichts weiter als Clowns. Nichts, um das man sich Sorgen machen müsste."

Das war 1929.

Neun Jahre später - die "Clowns" hatten seit fünf Jahren die Macht in Deutschland übernommen, in Oldenburg regierten die "Clowns" bereits seit sechs Jahren - neun Jahre später musste dieser Alex Goldschmidt zusammen mit seinem Sohn Günter den Weg durch die Stadt Oldenburg antreten, hier am Pferdemarkt bis hin zum Gefängnis, vorbei an den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Oldenburg, vorbei an Zuschauern, alt und jung, Männern und Frauen, vorbei an der ausgebrannten Synagoge in der Peterstraße.

Nichts weiter als Clowns!

Nichts weiter als Rabauken!

Wirklich nichts weiter als Clowns?

Heute wissen wir es anders. Heute sollten wir es anders wissen!

Nichts ist vergessen -

niemand ist vergessen!

So steht es auf dem Transparent, das seit vielen Jahren, immer am 10. November, vom Pferdemarkt zum Gefängnis durch die Straßen von Oldenburg getragen wird.

Niemand ist vergessen? Nichts ist vergessen?

65 Jahre nach den Plünderungen, Demütigungen, Mißhandlungen und Ermordungen des Novembers und 58 Jahre nach dem Ende des selbsternannten und selbstherrlichen Dritten Reichs - da ist nicht mehr von Clowns die Rede, jedoch von "Verwirrten". Es seien "Verwirrte", so heißt es, die die Geschichte der Jahre 1993 bis 1945 und auch die Vor- und Nachgeschichte dieser Jahre anders schreiben wollten.

Mit den Begriffen Opfer und Täter jonglieren manche so lange, bis Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern geworden sind.

Das alles sei gar nicht so gemeint - so wird dann betont.

Damit habe man niemanden verletzen wollen - wird beteuert.

Man distanziere sich von dem, was man gerade gesagt habe - aber man werde doch noch seine Meinung sagen dürfen, endlich mal das sagen dürfen, was man lange nicht habe sagen können!

Die, die "Verwirrte" genannt werden, stiften Verwirrung, sie stiften, so scheint es, vorsätzlich Verwirrung!

Wenn Ihnen die Umdeutung von Tätern zu Opfern und von Opfern zu Tätern nicht gelingt, so gelingt doch wenigstens die Verwirrung darüber, wer denn eigentlich zu den Opfern, wer denn eigentlich zu den Tätern zu zählen sei. Denn - nicht wahr? - in gewisser Weise ist doch jeder ein Opfer!

Die Clowns, von denen Alex Goldschmidt seinerzeit sprach, diese Clowns mussten sehr ernst genommern werden. Wie ernst müssen wir die sogenannten Verwirrten nehmen?

Wie verhalten sich die Zuschauer dieser Clownsnummer? Applaudieren die Zuschauer? Stimmen sie zu? Lachen sie mit? Oder lachen sie die Clowns aus? Wenden sie sich ab? Achselzuckend, desinteressiert, resigniert? Empört es sie? Äußern sie sich? Bedacht um die Folgen ihres Tuns? Ängstlich bedacht um die Folgen ihres Tuns? Protestieren sie? Wie verhalten wir uns? Wie Zuschauer?

1929 waren es für Alex Goldschmidt nur ein paar "Rabauken", die sich wie "Clowns" aufführten.

Alex Goldschmidt gehörte zu den Opfern dieser "Clowns": Er war Jude.

Doch es blieb damals nicht bei einer Gruppe von Opfern.

Ein System, das anfängt, Menschen zu sortieren, eine Gesellschaft, die anfängt, Menschen zu klassifizieren in wertvolle und weniger wertvolle und in wertlose, macht nicht halt bei einer Gruppe, sie wird Menschen vernichten.

Es bleibt nie bei einer Gruppe von Opfern.

Es kamen hinzu die Sinti und Roma, die Schwachen und Kranken, die Homosexuellen, die sogenannten Asozialen oder "Arbeitsscheuen", die, die anderer Meinung waren, anderen Glaubens waren, die, die fremd erschienen oder für fremd erklärt wurden.

Sage niemand, solche Gedanken seien heute in unserem Land ganz verschwunden!

Es mögen Verwirrte sein, die heutzutage diese oder ähnliche Gedanken vertreten.

Doch wer sagt uns denn, daß es Verwirrte sind? Und warum?

Der Dichter Günter Eich schrieb einmal: "Schlaft nicht, wenn die Ordner der Welt geschäftig sind! Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen! Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!"

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Rede 10. November

Heute vor 65 Jahren standen hier an unserer Stelle viele jüdische Menschen. Sie waren brutal aus ihrem Alltag, soweit man noch von einem hatte sprechen können, gerissen worden.

Wir sind gerade denselben Weg gegangen, den damals die Oldenburger Juden in demütigender Weise entlang getrieben worden waren.

Ich habe den Gang dieses Jahr zum ersten Mal mitgemacht und bin noch immer bewegt.

Zwar hatte ich jedes Jahr von dem Gang gehört, doch irgendwie hatte ich es nie geschafft, auch wirklich teilzunehmen. Vielleicht wäre es dieses Jahr ähnlich gewesen, wenn mich nicht Herr Kregel gefragt hätte, ob ich heute ein paar Worte sagen wolle.

Ich sprach mit meinen Großmüttern über ihre Erfahrungen während des 2. Weltkrieges und begann, mich für die Geschichte der Oldenburger Juden zu interessieren.

Ich merkte nicht nur, wie interessant und wichtig es ist, die Geschichte der eigenen Stadt zu kennen, sondern verstand ich auch langsam von welcher Bedeutung die Erinnerung an die Verbrechen des 2. Weltkrieges und besonders an die Judenverfolgung ist.

Doch leider denke ich, daß es heute vielen Jugendlichen wie zunächst auch mir ergeht. Ab der 3. Klasse habe ich Daten, Bündnisse, Gebietseroberungen und natürlich die unvorstellbar hohen Opferzahlen des 2. Weltkrieges lernen müssen. Da stellt sich leicht eine gewisse Abwehrhaltung ein. Manche Schüler fühlen sich überfordert oder sehen nicht ein, warum sie sich erinnern sollen.

Eine Überforderung kommt vielleicht dadurch zu Stande, daß man sich unter abstrakten Zahlen, so groß sie auch sein mögen, nur schwer etwas vorstellen kann. Doch genau diesen Schülern würde ich raten, hier mitzugehen und Geschichte hautnah zu erleben.

Außerdem heißt Auswendiglernen von Zahlen und Daten nicht erinnern. Erinnern heißt nicht nur Wissen um das Geschehene, sondern es heißt, daß ich Konsequenzen daraus ziehe oder wie Richard von Weizäcker sagte: "Erinnern heißt eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, daß es zu einem Teil des eigenen Innern wird." Ich muß also nicht die genauen Opferzahlen kennen, nicht wann welches Bündnis war, sondern ich muß die Bedeutung dieser Geschehnisse für die Gegenwart erkennen. Erinnern heißt also auch vergegenwärtigen.

Doch diese Vergegenwärtigung fiel mir anfangs etwas schwer. Ich wusste nicht, wie sich Schüler damals verhalten haben. Wie gingen sie mit ihren jüdischen Mitschülern um? Was dachten sie über den nationalsozialistisch geprägten Unterricht? Akzeptierten sie alle bedingungslos, was ihnen gesgat wurde?

Ich las das Buch "Schulzeit im dritten Reich" von Ottheinrich Hestermann, in dem eine Gruppe ehemaliger Schüler des Alten Gymnasiums Oldenburg von ihrem Erfahrungen berichtet. Ich lese (zitiere?) jetzt eine etwas gekürzte Passage aus dem Kapitel "Im Banne des Vorurteils" vor:

"Juden gehörten einer minderwertigen Rasse an, sie waren äußerst geschaftstüchtig und von einer gefährlichen Intelligenz, vor allem aber geschworenen Feinde des deutschen Volkes, gegen die sich dieses wehren mußte.

So etwa hörten wir es in der Hitlerjugend, der wir seit dem zehnten Lebensjahre angehörten, während von unseren meist humanistisch gesinnten Lehrern, von einer Ausnahme abgesehen, keine antisemitischen Einflüsse auf uns ausgingen. Dies gilt freilich nicht für die Schule als Institution, in welcher die weltanschauliche Schulung, zu der auch ein Zerrbild von den Juden gehörte, mit Aulavorträgen, klassenweisem Besuch von Ausstellungen oder von der Behörde angesetzten Kinobesuchen durchaus ihren Platz hatte.

Waren die Juden wirklich andere Menschen als wir? Hin und wieder zeigte man auf einen Menschen auf der Straße mit dem Hinweis: "das ist ein Jude", obgleich sich dieser in keiner Weise von seinen Mitmenschen unterschied. Auch sollte der Besitzer des klienen Kaufhauses Wohlwerth unter den Kolonnaden der Schüttingstraße, wo man sehr günstig Spielzeug und Schulsachen kaufen konnte, ein Jude sein- Aber warum sollten wir ihm böse sein? und es gab da in der Peterstraße, nicht weit von der katholischen Peterkirche, ein jüdisches Gotteshaus mit Namen Synagoge, das sich schön in das Ensemble der übrigen Gebäude der Straße einfügte. (...)

Vielleicht war es ein Glücksfall für uns, daß wir einen Jungen von teilweise jüdischer Abstammung in unserer Klasse hatten, nämlich Gert S..

Wir mussten miterleben, daß dieser, auch wenn er nur mit einem Viertel seines Erbteils Jude war, durch seinen Ausschluß von der Hitlerjugend als Außenseiter der Gesellschaft abgestempelt wurde. Auf der anderen Seite war Gert voll in die Klassengemeinschaft integriert, genoß in ihr sogar wegen seiner hohen Intelligenz einen besonderen Respekt, so daß wir uns sozusagen selbst eines Besseren belehrten. Das schloß freilich nicht aus, daß einzelne von uns in den Bann des antisemitischen Vorurteils gerieten. Horst R. erfuhr, wie tief er den Freund verletzte, als er diesen einmal unbedacht einen Juden schimpfte. Ähnlich erging es Günther, dem es die Schamröte ins Gesicht trieb, als Gert in Günthers Notizbuch hinter dem eigenen Namen die Bezeichnung "Jude" fand und diese in "1/4 Jude" änderte."

Dieser Text zeigt, wie wichtig es ist, nicht nur eine vorgegebene Meinung zu übernehmen oder sich unterzuordnen. Er veranschaulicht aber auch, wie anfällig jeder für solcherlei Hetzgedanken sein kann.

Gerade deswegen ist es wichtig, sich zu erinnern. Ich kann mich heute zwar nicht mehr schuldig fühlen, aber ich kann sehr wohl versuchen zu vermeiden, daß so etwas noch einmal passiert.

Ich kann die Verbrechen des 2. WK nicht ungeschehen machen, aber ich kann helfen die Verbrechen des Nationalsozialismus von morgen zu verhindern.

Der 2. WK und die Judenverfolgung sind Teil deutscher Geschichte und somit auch meiner Geschichte, meiner Vergangenheit. Und ich trage daher Verantwortung. Verantwortung, nachfolgende Generationen aufzuklären, und nicht aufzuhören, zu fragen. Denn nur wer fragt, wird sich erinnern. Aber Ich habe auch die Verantwortung, das Heute, die Gegenwart mitzugestalten.

Denn ist die Vergangenheit wirklich vergangen?

Rassistische und judenfeindliche Ausschreitungen beweisen uns das Gegenteil. Und besonders traurid ist, daß einige Jugendliche aus Gründen, die sie selbst nicht mal erklären könnten, zu Handlungen gegen Ausländer und Juden neigen. Daher sehe ich für mich und alle Jugendlichen eine besondere Verantwortung, solchen extremistischen Taten vorzubeugen.

Ich möchte mit einem Zitat unseres Bundespräsidenten Rau schließen, der sagte: "Nur wer die Vergangenheit kennt und annimmt, kann den Weg in eine gute Zukunft finden!"

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Wir hören nun einen Satz aus Beethovens Serenade für Flöte, Geige und Bratsche. Es ist nicht irgend eine Musik, sie hat einen Hintergrund: Martin Goldsmith schreibt in seinem Buch "Die unauslöschliche Sinfonie" das Schicksal der Juden am Beispiel seines Vaters Günther nieder. Günther sitzt am 9. November abends in seiner Wohnung in Berlin und spielt Flöte, als plötzlich sein Hauswirt hereinplatzt und ruft: "Ein Aufstand. Sie suchen uns diese Nazischweine. Sie randalieren, zerschlagen und verbrennen alles, was sie in die Finger bekommen und dazu schreien sie: 'Fangt die Juden' und ... Wir haben jetzt keine Zeit ... Rennen Sie ... Jetzt, verdammt nochmal!".

Günther stürzt los und entschließt sich, mit Zug nach Düsseldorf zu seiner Geliebten, Rosemarie, zu fahren. Durch das Zugfenster sieht er die brennenden Synagogen, all das Elend.

Als er am Morgen des 10. Novembers ankommt, hat Rosemarie gerade Geigenunterricht bei ihrem Vater. Sie und ihre Eltern sind ebenfalls jüdisch, trotzdem erfährt Günther eine ruhige und gelassene Begrüßung von Rosemaries Vater - er solle sich erst einmal in der Küche stärken, doch im Kühlschrank ist nichts zu finden...

Als er zurück ins Zimmer kommt, spricht Rosemaries Vater zu ihm: ,Günther, hast Du zufällig Dein Instrument dabei? Ja? Wunderbar. Laßt uns drei doch ein bisschen von der Beethoven-Serenade spielen.` - Günther traute seinen Ohren nicht. Er hatte kaum die Nacht überlebt, und dieser Mann tat, als handle es sich um einen ganz normalen Morgen.

,Entschuldigen Sie, Herr Gumpert`, sagte er. ,Haben Sie denn nicht gehört, was los war? Sind Sie draußen gewesen und haben die Straßen gesehen? Haben Sie denn keine Angst?\/` - ,Wovor?\/`, fragte er zurück. ,Vor ein paar betrunkenen Idioten? Natürlich nicht. Also, Günther, deine Flöte. Hier sind deine Noten. Langsamer Satz.` [...] Der langsame Satz der Beethoven-Serenade beginnt mit einer zarten Melodie von äußerstem Wohlklang in Geige und Bratsche, deren Linien sich umeinander winden und sich sehnsuchtsvoll aufschwingen. Als Günther den beiden zuhörte, dachte er an all das, was er gesehen und gehört hatte, seitdem er sein Instrument das letzte Mal in seinem friedlichen Zimmer in Berlin gespielt hatte: das Klopfen an der Tür, die an Wände geschmierten Schimpfnamen, den Rauch und die Flammen, die zerstörten Synagogen, seine schmerzenden Füße und die Magenkrämpfe, ,Judennase`, den glitzernden Berg von zerbrochenem Glas, darunter auch das geborstene Fenster seines Herzens. Und er dachte daran, daß er jetzt hier war, in Sicherheit, im Haus seiner besten Freundin, und - zumindest für den Moment - in der Welt Beethovens.

Als sein Einsatz kam, konnte er die Noten nicht sehen. Seine Augen waren voller Tränen."

Wir hören nun also einen Satz aus der Musik, die Günther Goldschmidt in Düsseldorf spielte, während in Oldenburg sein Vater Alex und sein Bruder Helmut den Weg gehen mussten, den wir alle gerade eben gegangen sind, um nicht zu vergessen.

Oliver Hölzen,

10. November 2003

 

 
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