Oldenburger STACHEL Ausgabe 1/96      Seite 13
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Deutsche Wahlbeobachter behindert

Eine vierköpfige Gruppe, die in Van (türkische-Kurdistan) die Wahlen beobachten wollte, wurde durch Sicherheitskräfte am Wahlmorgen daran gehindert, den von der Gruppe ausgesuchten Ort zu erreichen. Die Gruppe, die das Ziel Kirkgeçit in der Provinz Gürpinar hatte, konnte nicht dorthin gelangen und kehrte nach Van zurück. Bei dem Ort handelte es sich um einen der zahllosen Orte, die zwar voll auf den Wahllisten geführt wurden, wo die Bevölkerung jedoch schon vollständig vertrieben ist. Dennoch tauchen diese Stimmen, aufgeteilt nach einem für die Teilnehmer nicht erkennbaren Schlüssel auf den Stimmlisten für die ANAP, REFAH und auch DYP auf.

Die Gruppe konnte zahlreiche Zeugenaussagen dokumentieren, die belegen, daß es in den kurdischen Gebieten, und hier insbesonders in den ländlichen Regionen, massive Fälschungen der Wahlergebnisse gegeben hat. Insbesonders wurden die Menschen zur offenen Stimmabgabe gezwungen, wobei sich unter den Augen von Dorfschützern und Militär nur wenige trauten, die pro-kurdische Partei HADEP zu wählen.

Beim Rückflug wurde auf dem Flugplatz während des Eincheckens der kurdische Reisebegleiter, Hazim Inan, Mitglied der HADEP, verhaftet. Die vier WahlbeobachterInnen wurden dabei mit körperlicher Gewalt (Schlägen, Fußtritten) sowie massiven Drohungen "ihr kommt hier nicht heil 'raus", von Hazim Inan getrennt. (Daß sein Platz dennoch im Flugzeug belegt war, zeigt die enge Zusammenarbeit zwischen Sicherheitskräften und der türkischen Fluggesellschaft auf.) Der IHD in Istanbul hat sich sofort an die Flughafenpolizei in Van gewandt, die die Verhaftung von H. Inan bestätigten, wogegen die Sicherheitsbehörden in Van von einer Festnahme angeblich nichts wußten.

Wahlbeobachtung in Kurdistan vom 22.12 bis zum 28.12.1995

Teilnehmende: Isgard Lechleitner, Oldenburg, Kerstin Rosan, Hagen (Dolmetscherin), Aiso Heinze, Rhauderfehn, Reinhold Kühnrich, Oldenburg,

In der Ankunfthalle des Istanbuler Flughafens suchen wir über eine Stunde nach den Freunden von der Hadep, die uns abholen sollten.

Trotz der großen Hektik so kurz vor den Wahlen werden wir im Hadep-Büro herzlich willkommen geheißen. Die Leute der Hadep berichten über Probleme in Kurdistan, über die Nichtregistrierung von WählerInnen, zerstörte Dörfer, Lebensmittelembargos gegenüber Dörfern usw.. Die aus zerstörten Dörfern vertriebenen Menschen, die in Istanbul oder anderen türkischen Städten untergekommen sind, sind z.T. massiv daran gehindert worden sich zu registrieren. Häufig wurden sie von einer Behörde zur nächsten geschickt bzw. es wurde ein polizeiliches Führungszeugnis von der Sicherheitspolizei verlangt. Wenn die Hadep versuchte zu helfen, gab es eher mehr als weniger Probleme.

Ankunft

Am Samstag, 23.12.93, gegen 11:00 Uhr landen wir in Van und werden auf dem Rollfeld gleich von einem Mann mit Videokamera ins Visir genommen. Mit zwei Autos geht es zum Hadep-Wahlbüro, daß etwa 20 Meter in einer kleinen Seitengasse, die von der Hauptverkehrsstraße in Van abgeht, liegt. Wir halten am Straßenrand, sofort ist das Auto umringt von Menschen und ein staatlicher Videofilmer ist auch wieder da. Die Seitengasse ist brechend voll, das Hadep-Büro ebenso. Noch bevor uns ein Weg hinein gebahnt wurde, kommt ohrenbetäubener Applaus und Gepfeife auf, die Leute machen das Victory-Zeichen. Der Hadep-Spitzenkandidat von Van hält eine kleine (und politisch neutrale) Ansprache zum Thema Wahlen.

Nachdem wir einige Fotos gemacht haben, werden wir in ein Hotel gebracht. Nach kurzer Zeit kommen zwei Hadep-Leute zum Gespräch zu uns ins Hotel. Wir beratschlagen, daß wir noch die Wahlbüros der anderen Parteien besuchen werden. Gegen 14:30 Uhr kommen die Führungsleute der Hadep Van, Nazimi Gür und Ismail Aydin, zu uns ins Hotel. Aufgrund der Zivilpolizei im Foyer gehen wir aufs Zimmer. Es wird berichtet, daß der Druck zunimmt. Auf dem Weg zu uns sind die Pässe kontrolliert worden. Sie schlagen vor, wir sollten Kontakt zum Gouverneur Bestani aufnehmen und sagen, warum wir da sind. Wir reagieren zurückhaltend, da die Erfahrungen anderer Delegationen zeigte, daß solche Besuche von Presse und Fernsehen ausgeschlachtet werden, beschließen dann aber einen nur englischsprachigen Kurzbesuch zu machen. Die Hadep-Leute wollen für uns versuchen einen Termin zu organisieren. Wir fragen nach konkreten Ortsvorschlägen für unsere Tätigkeiten am morgigen Wahltag. Während in Van der Wahlkampf relativ frei war, gab es in vielen Dörfern massive Drohungen teilweise staatlicherseits aber auch von den Parteien und Dorfschützern.

Leere Dörfer

Um Van gibt es mehrere entvölkerte oder fast leere Dörfer, in denen aber trotzdem Wahlurnen aufgestellt werden. Hier wäre es wichtig zu zählen, wieviele (bestellte) Leute kommen und ihre Stimme abgeben.

Zur Wahlbeobachtung wird uns das Dorf Kirkgeçit in dem Bezirk Gürpinar vorgeschlagen. Auf dem Lande sind immer mehrere kleine Dörfer zu einem Wahlkreis zusammengefaßt worden und die Urne steht in dem größten Dorf. Der Ort Kirkgeçit ist so ein Zentraldorf. Als Wahllokal wurde die dortige Militär- bzw. Polizeistation eingerichtet.

Vergebliche Fahrt

Man will uns gegen 5:30 Uhr einen zuverlässigen Taxifahrer schicken, der den ganzen Tag bei uns bleiben soll, der aber nicht unseren Zielort kennt.

Wie verabredet stehen wir um 5:30 Uhr vor dem Hotel. Wenige Meter neben der Hoteltür warteten schon zwei Zivilpolizisten im Auto mit laufendem Motor. Die Straßen sind recht leer, nur dann und wann fährt ein Polizeiwagen vorbei, gegen 5:40 Uhr auch ein Panzer. Um 5:45 Uhr kommt endlich ein Taxi und es geht los. Der Fahrer weiß von nichts, er kennt weder den Ort Kirkgeçit, noch daß er den ganzen Tag bei uns bleiben soll.

In Gürpinar fragt er einen Passanten nach dem Weg nach Kirkgeçit. Kurze Zeit später, nach etwa 30 Minuten Fahrzeit, wird das Auto langsamer und ruckelt. Der Fahrer fummelt am Choke rum und erklärt, er hätte Probleme mit dem Motor. Uns ist klar, daß dies offensichtlich vorgeschoben ist. Er hält an und fummelt am Motor herum. Plötzlich geht er zu den Zivilpolizisten, die etwa zehn Meter hinter uns gehalten haben und spricht mit ihnen. Einer der Zivilpolizisten telefoniert, und kurze Zeit später sind die beiden verschwunden. Unser Taxi fährt plötzlich auch wieder schneller. Für uns ist damit klar, daß nun wohl in Kirkgeçit alles vorbereitet ist und wir uns den Weg sparen können, also kehren wir um.

Wahl in Kurubas

Im Hadep-Büro gibt es ständig Telefonanrufe aus Orten, in denen es Unregelmäßigkeiten beim Wahlvorgang gibt. Zusammen mit einem zuverlässigen Taxifahrer fahren wir in das Dorf Kurubas, das noch zur Stadt Van gehört. Wie zu erwarten war, sind die Leute in dem Dorf durch unsere Verfolger kurz vorher über unsere Ankunft informiert worden.

In dem Wahllokal, der Schule des Ortes, gibt es in der Ecke eine Wahlkabine, die aus übereinandergestellten Bänken und einem großen Tuch besteht. Draußen vor dem Wahllokal und auch drinnen ist es sehr voll. Wir fragen nach der Zusammensetzung der Wahlkommission, in der sogar zwei Hadep-Leute sind.

Bis zu diesem Zeitpunkt (9:00 Uhr) haben nach Aussagen des Leiters etwa 30 Leute gewählt, wie sich später herausstellt, müssen es aber schon etwa 60 gewesen sein. Im Ort gibt es 382 Wahlberechtigte, einer wird später noch nachträglich registriert, so daß es insgesamt 383 sind. Der Wahlablauf gestaltet sich folgendermaßen: Die Wahlberechtigten müssen erst ihren Ausweis und die Wahlbenachrichtigung abgeben und es wird in der Liste nachgeschlagen. Anschließend erhalten sie Wahlzettel, Umschlag und einen Ja-Stempel und gehen in die Wahlkabine. Nachdem der Umschlag in der Urne verschwunden ist, müssen die Wähler unterschreiben bzw. einen Fingerabdruck hinterlassen und bekommen auf dem Zeigefinger der rechten Hand einen nicht unmittelbar abwaschbaren Farbtupfer. Gleich nachdem wir Platz genommen hatten, begannen wir, die Wählenden mitzuzählen und jede Unregelmäßigkeit zu notieren. Viele haben keinen Ausweis dabei, sondern nur die Wahlberechtigung, eine Person hatte sogar beides nicht dabei. Sehr viele werden in die Wahlkabine gewiesen, fragen aber trotzdem sicherheitshalber noch einmal nach, ob sie wirklich hingehen sollen. Insbesondere die Frauen werden regelrecht in die Kabine gescheucht. Der Tonfall des Wahlleiters und des Dorfvorstehers ist befehlsartig. Diverse Male geben Leute aus der Kabine kommend Wahlzettel und Umschlag getrennt ab, auch kommt es vor, daß beides in der Kabine liegengelassen wird und nur der Stempel zurückgebracht wird. Fast alle geben den Wahlumschlag beim Wahlleiter ab, kaum einer steckt ihn selber in die Urne. Dies alles sind Hinweise, daß die Verwendung der Wahlkabine bisher nicht unbedingt üblich war. Da die Leute der Wahlkommission sehr schnell spitz gekriegt hatten, daß wir kein kurdisch können, wurde kurzerhand die Amtssprache von türkisch in kurdisch gewechselt, einer Sprache, die bis vor kurzem noch verboten war!

Zwischenzeitlich war das Militär vorgefahren und ins Wahllokal gekommen mit der Angabe, sie wollen aufpassen, daß die Urne nicht geklaut wird. Vor dem Wahllokal an dem Hauptweg des Dorfes postieren sich zwei Soldaten mit Kalaschnikows, im Lokal ist seitdem der Kommandeur mit einer Pistole.

Ohne Wahlkabine

Die beiden Zivilpolizisten haben es aufgegeben, uns bei unseren Dorfspaziergängen zu begleiten. Es gelingt mit Hilfe unserer Dolmetscherin endlich, ausführlichere Gespräche zu führen, in denen bestätigt wird, daß bei diesen Wahlen zum ersten Mal eine Wahlkabine benutzt werden darf. Um 15:00 Uhr wird das Wahllokal geschlossen. Eine ganze Reihe von Leuten sitzen auf den Bänken und verfolgen nun das Geschehen. In der Wahlliste wird nachgezählt, wieviele Nichtwähler es gibt (58) und daraus die Zahl der Wähler berechnet (325). Schließlich wird die Urne geöffnet und die Umschläge werden gezählt, es waren 319 abgegebene Stimmen zu verzeichnen. Aufgrund der Differenz wurde beides noch einmal gezählt, es ergab sich aber kein neues Ergebnis.

Vorne an der Tafelseite sitzt nun der Wahlleiter und öffnet die Umschläge, alle anderen sitzen im Raum und hören zu, notieren mit. Der Wahlleiter ist sichtlich ärgerlich über die vielen Hadep-Stimmen und seufzt des öfteren.

Um 16:40 ist die Auszählung beendet, die Hadep hat 126, die ANAP 95 Stimmen, die restlichen Stimmen verteilen sich auf die anderen zehn Parteien.. Das Wahlergebnis wird verkündet und in mehrere Listen eingetragen, die jeweils von allen Vertretern der Wahlkommission unterzeichnet wird. Gegen 19:15 Uhr suchen wir das Hadep-Büro in Van auf, nun wieder mit zwei Zivilpolizisten im Schlepptau.

Uns wird über vielfältige Unregelmäßigkeiten berichtet, z.B. in Hosaç im Bezirk Güzel Suyu wurden acht Wahlurnen einfach beschlagnahmt. Nach und nach werden telefonisch die Wahlergebnisse durchgegeben.

Flüchtlingslager

Montag, 25.12.95 ; Van Wir gehen ins Hadep-Büro (etwa 11:00 Uhr), wo es wieder sehr voll ist. Uns wird wieder über Wahlunregelmäßigkeiten berichtet, die Hadep-Leute wollen die Einzelheiten aufschreiben und uns reinreichen. Wir schlagen vor, Flüchtlingslager zu besuchen. Wir bekommen Begleiter, u.a. den ehemaligen Bürgermeister von Sirnak, sowie Hazim Inan, ein junger, engagierter Hadep-Mann. Gegen 12:20 Uhr kamen wir im ersten Flüchtlingslager an. Es handelte sich um einige Zelte als Vorratslager und einige nebeneinanderliegende festgebauten Räumlichkeiten, die vollkommen überbelegt waren. Bei den Gesprächen übersetzte unser Begleiter Hazim von Kurdisch in Türkisch, die Aufpasser standen immer direkt daneben. Es kam zu einigen Spannungen, da die Zivilpolizisten sagten, sie seien für das Lager zuständig, die Leute hätten genügend Holz und Brot. Uns gelang es, in einem Raum Gespräche zu führen und die Polizisten dabei auszusperren. Dort wurde uns berichtet, daß in einem Raum 15-30 Leute leben. Die Größe beträgt etwa 25 qm. Da es kein fließendes Wasser gibt, haben die Menschen schon seit Monaten nicht mehr geduscht. Pro Tag würden sie ein Stück trockenes Brot bekommen. Zum Heizen für den bitterkalten Winter wurde pro Familie nur 240 kg Kohle geliefert. Der Staat kümmert sich sonst um nichts, manchmal kommt Polizei oder Militär und kontrolliert. Die Räume haben keine Belüftung, so daß die Menschen z.T. unter Schwindelanfällen leiden und in Ohnmacht fallen, insbesondere im Winter, wenn mit dem Ofen geheizt wird. Um die Kranken kümmert sich der Staat ebenfalls nicht. Da es keine Krankenversicherung gibt, muß jede Behandlung bezahlt werden, wozu die Menschen kein Geld haben.

Verhaftung angedroht

Gegen 13.00 Uhr besuchen wir ein zweites Flüchtlingscamp. Hier wurden seit Sommer 1994 am Stadtrand neue Häuser in Einfachbauweise gebaut, zur Zeit gab es wegen der Kälte kein Zeltlager. Die Menschen hier sind teilweise einzeln geflohen, zum Teil sind aber auch ganze Dörfer zusammen hierhergekommen. Arbeit gibt es für die Menschen nur bis August auf den Feldern, danach nicht mehr. Ein Mann beginnt zu erzählen, daß er vom Staat für den Hausbau nichts bekommen hat, weder Geld noch Material. Sofort wird er von einem Zivilpolizisten bedroht und mundtot gemacht. Unser Mitfahrer Hazim berichtet, daß die Zivilpolizisten ihm die Verhaftung innerhalb der nächsten drei Tage angedroht haben. Gegen 13:50 Uhr kommen wir im dritten Flüchtlingslager neben der Universität am Van-See an. Es handelt sich um eine Art Wohnheim mit Gemeinschaftsbadezimmern usw., alles in einem sehr schlechten Zustand.

Wir werden in einen Raum geführt, in dem sich eine junge Frau mit ihrem Kind befindet, mit der Aussage, man rechnet wohl mit dem Tod der beiden, da keinerlei ärztliche Behandlung gegeben werden kann. Der Ex-Bürgermeister aus Sirnak schafft es mit seiner Autorität, die Zivilpolizisten mit Gesprächen an sich zu binden. Es kommt trotzdem zu einer Auseinandersetzung zwischen der Polizei und Hazim. Gegen 14:10 Uhr wird ihm sein Paß abgenommen, was zu heftigen Diskussionen zwischen uns und den Zivilpolizisten führt. Schließlich drängen unsere Begleiter auf Abfahrt, auch ohne daß Hazim seinen Paß zurückerhalten hat. Als wir ins Taxi steigen, sagt ein Zivilpolizist, Hazim solle am Abend zur Sicherheitspolizei kommen. Viele Hadep-Wähler haben jetzt, nachdem die Wahlen für die Hadep verloren sind, Angst, daß ihnen etwas angetan wird. Wir verlassen das Büro und werden auf dem Weg zum Hotel von Zivilpolizisten zu Fuß und im Auto verfolgt. Gegen 15:20 Uhr sind wir wieder im Hotel, wo zwanzig Minuten später Hazim wieder auftaucht. In Gesprächen mit ihm erfahren wir, daß es etwa 40 % der Menschen in Van gut geht und 60% um das tägliche Überleben kämpfen. Er will mit uns zu kurdischen Familien.

Gegen 16:00 Uhr ziehen wir trotzdem los. Die wenigen Zivilpolizisten haben in diesem Moment kein Auto und wir konnten sie abgehängen. Er führt uns zu einer Familie, wo der Bruder, ein Dolmusfahrer, zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Polizisten hatten Waffen in sein Auto geladen und ihn nach 100 m angehalten und verhaftet. Seine Frau und die fünf Kinder leben jetzt hier. Der Mann selber wurde vor 13 Monaten verhaftet und war ein Jahr im Gefängnis, weil er Mitglied der DEP war. Seine Mutter ist krank, kann aber aus finanziellen Gründen nicht behandelt werden. Sein Onkel war Abgeordneter der HEP. Er wurde bei diesen Wahlen von ANAP-Leuten so sehr bedroht, daß er nicht zur Wahl ging. Vor zwei Jahren wurden sie aus ihrem Dorf bei Hakkari vertrieben, seitdem leben sie hier in diesem Haus mit 19 Personen. Die Arbeitsaufnahme wird verhindert, es fehlt an allem.

Neben dem Stadtviertel, in dem wir uns aufhalten (Yeni Mahal, Neues Stadtviertel), gibt es noch ein zweites Viertel (Emin Pascha), in dem es ähnlich wie hier aussieht. Es steht unter permanenter Überwachung, ständig gibt es Patrouillen, Hausdurchsuchungen, Telefone werden abgehört (falls vorhanden), keiner darf eine Satellitenschüssel haben. Wir fahren quer durch die Stadt und sind gegen 17:20 Uhr im Stadtteil Emin Pascha, das von der Polizei ,Kurdistan" genannt wird. Hier wurden zu Newroz 1993 zwei Menschen erschossen. Wer hier die Hadep offen unterstützt bzw. die kurdischen Farben zeigt, muß mit Verhaftung und Folter rechnen. Wir besuchen eine Familie. Die Mutter berichtet, daß sie ein zweites Haus auf der anderen Straßenseite besitzen. Ihr dortiger Mieter hatte immer die Zeitung ,Özgur Gündem" verkauft und wurde deswegen erschossen. Seine Frau kam nach 20 Tagen Folter frei und lebt jetzt mit ihrer Familie in Izmir. In dieses Haus kam früher jeden Tag die Polizei, teilweise sogar mehrmals am Tag. Auch unsere Gastgeber wurden als Vermieter belangt. Es gab Durchsuchungen, Kranke wurden nicht behandelt, auch wenn Geld da war. Zu den Wahlen wird berichtet, daß aufgrund des riesigen Drucks in diesem Viertel nur 60% für die Hadep gestimmt haben, obwohl die Wahlen geheim waren. In den Dörfern in der Umgebung wurde sogar zur off enen Wahl ohne Kabine gezwungen. In dem Dorf Kakan im Bezirk Çatak drohte der Dorfvorsteher Haci Bekir, das Dorf zu verbrennen und den Menschen die Finger auszureißen, falls nicht die ANAP die Stimmen bekommen würden.

Wir fragen nach Anwälten in Van, die sich für Kurden engagieren. Es wird uns erzählt, es gibt keine, da alle Angst haben. Sämtliche Mitarbeiter der Zeitung Özgur Gündem in Van sind getötet worden. Man erhofft sich endlich Unterstützung bzw. Stellungnahmen und Aktionen durch die türkische Linke auf diesem Gebiet. Gegen 18:30 Uhr ist das Gespräch beendet.

Verhaftung und gealttätige Übergriffe

Dienstag, 26.12.95 ; Van, Istanbul Gegen 8:10 Uhr taucht Hazim Inan auf und berichtet, daß er auf dem Weg zu uns Schwierigkeiten hatte. Um 9:10 Uhr haben wir die Unterlagen noch nicht bekommen. Die Gesamtlage wirkt insgesamt sehr viel gespannter. Inzwischen hat Hazim erzählt, daß er mit uns nach Istanbul will. Wir besorgen ein Ticket für ihn. Daß der Flug für ihn gefährlich werden kann, ist ihm bekannt. Es sind acht Zivilpolizisten um uns, und es ist eine gespannte , nervöse Situation im Foyer. Wir organisieren ein Taxi und laden das Gepäck ein. In rasanter Fahrt geht es zum Flughafen. Wir können noch nicht einchecken, da unser Flug sich auf 12:30 Uhr verzögert. In unserer Nähe tauchen die ersten Zivilpolizisten wieder auf, die sich die gesamte Zeit im Flughafengebäude aufgehalten hatten. Gegen 12:50 Uhr sind wir an der Paß- und Sicherheitskontrolle, an der zwei Beamte tätig sind, neben uns steht ein Zivilpolizist. Unsere Sachen werden oberflächlich gefilzt, Hazim wird ausführlichst durchsucht. Er soll nicht durchgelassen werden.

Es gibt es eine heftige Diskussion auf türkisch und englisch mit dem Sicherheitsbeamten und dem Zivilpolizist, schließlich darf Hazim durchgehen. Wir stehen in der Abflughalle in der Nähe der Tür zum Rollfeld. Um 13:10 Uhr kommen ein unifomierter Polizist, einer unserer Zivilpolizisten und weitere Männer und verlangen, daß Hazim mitkommt. Wir umringen ihn und sagen auf englisch: ,Nur mit Gewalt gegen uns". Wir werden angeschrien, die Stimmung ist explosiv, Reinhold K. wird mit der Faust vor der Nase herumgefuchtelt. Plötzlich greifen die Sicherheitsleute zu: Kerstin R.wird seitlich zu Boden gerissen, Aiso H. mit aller Kraft weggezerrt, Reinhold K. wird mit Gewalt zurückgedrängt, so daß er über unser Gepäck stürzt, Isgard L.wird von einem Sicherheitsbeamten an ihrer Jacke mehrere Meter durch die Halle geschleift. Hazim wird schnell abgeführt. Das alles ist begleitet von lauten Protestschreien von uns auf englisch und deutsch. Wir laufen Hazim sofort hinterher, werden aber gleich abgefangen. Eine lautstarke Diskussion entsteht, schnell ist ein deutsch sprechender Mann da, der erklärt, daß Hazims Paß nicht in Ordnung sei. Reinhold K. spricht laut zu allen anwesenden Fluggästen auf englisch und erklärt, daß Hazim unserer Führer in Van war, der mit nach Istanbul kommen sollte und nun einfach verhaftet wurde. Das Paßargument ist vorgeschoben, da Hazims Paß in den letzten Tage, auch in unserer Gegenwart, des öfteren kontrolliert worden ist. Viele interessierte Menschen hören zu, stellen Nachfragen, viele andere wenden sich aber auch ab. Die Polizei war inzwischen verschwunden. Zu unserem Erstaunen war das Flugzeug vollbesetzt ist. Der Steward bestätigt, daß kein Platz mehr frei ist. Auf Nachfrage, daß dies nicht sein könne, erklärt er, unser Freund hätte dann wohl sein Ticket weiterverkauft. Als wir dies bestreiten, sagt er, dann wird wohl jemand von der Warteliste noch einen Platz bekommen haben. Wir rechnen eher damit, daß entweder von vorneherein das Ticket zweimal ausgestellt wurde, oder ein Zivilpolizist den Platz eingenommen hat.

Wahlbehinderung

Mit dem Taxi fahren wir ins Istanbuler Hadep-Büro, wo wir gegen 18:15 Uhr ankommen. Wir berichten, was in Van passiert ist. Die Menschen der HADEP berichten uns, daß auch in Istanbul die Wahlen nicht korrekt gelaufen sind. Hier wurden ebenfalls Hadep-Vertreter aus den Wahlkommissionen rausgeschmissen. Wir lernen im HADEP-BÜRO Hüseyin Ocak kennen, einen Bruder von Hasan Ocak. Er begleitet uns ins Hotel und wir können mit ihm einige Stunden verbringen. Hüseyin Ocak war in Istanbul Kandidat der Hadep im Wahlkreis 2 "Mein Wahlkreis bestand aus allen sozialen Schichten, aufgeteilt in 10 Gebiete, also 10 Stimmbezirke, insgesamt 1.800.000 WählerInnen." Ocak sagte uns, daß die Wahlkampagne für die HADEP sehr kurzfristig war, so daß nicht alle Gebiete erreicht werden konnten. Ochak: "Man hat uns in den Medien keine Gelegenheit gegeben, uns zu Wort kommen zu lassen. Es wurde über uns gar nicht berichtet. Stellungnahmen von uns wurden überhaupt nicht abgedruckt. Andere Parteien haben während des Wahlkampfes mit Lautsprechern gearbeitet, das wurde durch die Polizei bei uns verhindert. Es wurden Plakate entfernt. An einem Tag z.B. kam die Polizei in mein Büro, schwer bewaffnet und haben alle Plakate beschlagnahmt und wollten auch die anwesenden Leute verhaften. Man wollte auch das Büro schließen, die Leute festnehmen. Ich sagte ihnen, daß man mich mitnehmen solle, was man auch getan hat." Gegen ihn wurde Anzeige erstattet, u.a. wegen angeblicher terroristischer Plakate: 1. Plakat - Gebt uns Kraft, damit wir sie besiegen !! Vereinigung des werktätigen Volkes 2. Gebt Eure Stimme nicht den Staatssicherheits-Parteien.

H. Ocak hat die Sache auf sich genommen.

H. Ocak: "Die Polizei hat in den Wahlbezirken den Wahlkampf ständig provoziert, schwer bewaffnete Polizei vor die Büros gefahren, Gebiete abgesperrt, um den Menschen zu zeigen, daß die HADEP "terroristisch" sei. Man entfernte Plakate, angeblich, weil sie terroristischen Inhalts wären: Das war nicht nur ein Fall, sondern man stellte ständig schwer bewaffnete Kräfte um das Büro , auch in das Büro stellten die sich auf, mit der Aussage, wir wollen hören, ob ihr hier ungesetzliche Dinge erörtert. Ziel war natürlich, Menschen abzuschrecken, in das Wahlbüro zu gehen. Diese Wahl spiegelt nicht die Meinung des Volkes wider.

So gibt z.B. eine Zahl Rückschluß auf die AnhängerInnen der HADEP. In dem Gebiet Eminonü waren z.B. 65 Wahlhelfer für die HADEP tätig, davon konnten aber nur 2 wählen. Es hat z.B. keine Partei gegeben, die 40.000 Menschen für einen Wahlkampf mobilisieren konnte. Die REFA hat ihren Wahlkampf auf die soziale Schiene geschoben und mit einer sog. Alternativpolitik geworben. Die Aleviten haben überwiegend die CHP gewählt, die CHP versprach ihnen 30 Milliarden TL für Kulturvereine, etc., obwohl Intellektuelle eine demokratische Friedensbewegung gegründet hatten, die aufforderden, die HADEP zu wählen. H. Ocak erwähnte, daß sie mit aller Kraft versuchen werden, das Bündnis zu halten und auszubauen. "Der Samen, den wir gesäht haben, wird eines Tages aufgehen". H Ocak erzählte uns dann noch über seinen Bruder, den Todesschwadronen getötet hatten. Über seine Mutter, die einen Monat ins Gefängnis mußte, weil sie bei der Gerichtsverhandlung die Richter aufforderte: "Gebt mir meinen Sohn wieder". Diese sahen dies als Anlaß, sie für einen Monat "wegen Nichtachtung" einzusperren.

Auch Istanbul nicht sicher

Mittwoch, 27.12.95; Istanbul Gegen 14:20 Uhr brechen wir auf Richtung IHD, wo wir gegen 15:00 Uhr eintreffen. Die Leiterin begrüßt uns. Kerstin berichtet über die Ziele unserer Fahrt, wer wir sind und was passiert ist. Wir werden gebeten, den Fall Hazim Inan aufzuschreiben. Die Leiterin ruft in Van an. Die Flughafenpolizei bestätigt die Festnahme, verweist auf die Sicherheitsstation, wo sich Hazim aufhalte. Bei der Sicherheitsstation wird sein Aufenthalt abgestritten. Das Zentralbüro des IHD in Ankara wird informiert und versucht, weiter zu recherchieren. Wir bereiten ein Fax auf englisch vor für amnesty international in London, und ein zweites auf türkisch für den Gouverneur in Van vor. Im IHD-Büro ist sehr viel Betrieb. Ständig kommen Leute, um zu berichten. Sehr viele sind Verwandte von Gefangenen, einer hat einen blutigen Verband am Kopf, er wurde am Samstag bei einer Wahlkundgebung von der Polizei mißhandelt. Ein anderer zeigt Narben an seinen Handgelenken, an denen er aufgehängt worden war. Man kann nur feststellen, daß die Menschen auch in Istanbul nicht sicher sind.

Donnerstag, 28.12.95; Istanbul, Oldenburg Gegen 10:30 Uhr treffen wir im Hadep-Büro in der Nähe des Flüchtlingslagers ein.Das Flüchtlingslager ist etwa noch 15 Minuten mit dem Auto entfernt und liegt auf Militärgelände.

Flüchtlinge in Istanbul

Niemand kennt die genauen Zahlen der Menschen, die in die westtürkischen Großstädte geflüchtet sind. Ihre Lebenssituation ist nirgendwo statistisch erfaßt. Das Flüchtlingscamp liegt in der Nähe der Schwarzmeerküste. Die Flüchtlinge leben unter unwürdigen Verhältnissen. Alle der noch verbliebenen 20 Familien stammen aus dem Gebiet von Mardin. Vertrieben wurden die Familien dort aus ca. 10 Dörfern, die aus 15 - 200 Häusern bestanden. Die Flüchtlinge schilderten, daß sie keinerlei Dinge mitnehmen durften. In den Details gleichen sich die Vorwürfe gegen die türkische Armee. Nach der Aufforderung sogen. Dorfschützer zu werden, und der Weigerung der Menschen, erfolgt die Vertreibung. Vieh wird in der Regel erschossen und liegengelassen. Viele Menschen verlieren entweder direkt (es werden Menschen herausgegriffen und erschossen) oder auf der "Flucht" ihr Leben. 150 Familien fristeten hier zuerst ihr Leben. Inzwischen sind rund 130 Familien "weitergezogen". Zur Wahl sind nur ein halbes Dutzend registriert, von den 40 schulpflichtigen Kindern besuchen 3 die Schule. Die Menschen, die die Sitte haben, Neugeborene nach ihren Verstorbenen zu benennen, bekommen diese Namen als kurdische Namen nicht registriert. Ein abschließender Satz: "Wenn sie (das Militär) erfahren, daß ihr hier ward, gefilmt und fotografiert habt, werden sie kommen!"

Isgard Lechneitner


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