Oldenburger STACHEL Ausgabe 1/97      Seite 4
 
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MCS - Neue Umweltkrankheit

"Ich kann am Leben nicht mehr teilnehmen"

Bereits seit sieben Jahren gilt europaweit die Regel, daß öffentliche Bereiche rauchfrei sind. Vereinbarte Ausnahmen dürfen nicht zur Beeinträchtigung von Nichtrauchbereichen führen. Niedersachsen zog 1991 nach und setzte für die niedersächsischen öffentlichen Gebäude diese EU-Richtlinie um. (Nachzulesen im Niedersächsischen Ministerialblatt von 5/91.)

Von großer Bedeutung ist diese Regelung des Rauchens in der Öffentlichkeit deshalb, weil das Leben für empfindliche Menschen ohnehin beschwerlich ist. Auf den Fluren des Sozialamtes oder im Sozialreferat des Uni-AStA darum bitten und betteln zu müssen, daß nicht geraucht wird, ist nicht allein entwürdigend. Für manche ist das vorneherein ausgeschlossen, weil bereits das Betreten solcher Etablissements Asthmaanfälle und ähnlich Schlimmes auszulösen im Stande ist. Und warum sollten AllergikerInnen nicht auch mal einen gepflegten Tee in einer Gaststätte trinken dürfen? Weiß die Gastronomie eigentlich um die entgangnen Umsätze durch verqualmte Luft? Es brauchen ja nicht gleich alle Pseudohelden mit Löchern in der Sohle und Humphrey im Herzen um sämtliche Spelunken zu fürchten!

Wie weitreichend die Beeinträchtigungen für Menschen sind, die auf Inhaltsstoffe im Zigarettenrauch allergisch reagieren, ist den folgenden Ausführungen zu entnehmen - wobei die Symptomatik keinesfalls auf Zigerattenrauch begrenzt ist:

Betörende Düfte - für viele erstrebenswert - stellen für andere eine Gefahr für ihre Gesundheit dar. Parfüm-Geruch kann bei MCS-Patienten Schwindel und Kopfschmerzen auslösen. Zigarettenrauch verursacht bei den meisten an einer multiplen Chemikalien Sensitivität Leidenden Übelkeit, Erbrechen. Weichmacher in Reinigungsmitteln können Sehstörungen bewirken. Das Einatmen von Holzschutzmitteln kann zu Ohnmachtsanfällen führen. Die Liste von Chemikalien, die eine Vielzahl von Symptomen auslösen, ist lang.

Schwermetall-Dämpfe (Quecksilber aus Amalgamfüllungen), alle Lösungsmittel (Lacke, Parfüms, Terpene, Benzol, Äther, Benzin), Formaldehyd (Preßspanplatten), Isocyanate (Möbellacke), Verbrennungsprodukte, Pestizide, Insektizide, Smog und Ozon... Nach einer Auflistung von Stiftung Warentest befinden sich schätzungsweise 65OOO Chemikalien derzeit im Handel. Es werden täglich mehr. Etwa 13OO Verbindungen wurden auf gesundheitliche Folgen untersucht. Der Rest ist Schweigen. Der Putzschrank, der Hobbyraum - eine Alchimistenküche?

Das Multiple-Chemical-Sensitivity-Syndrom (MCS) ist eine neuerdings erkannte umweltmedizinische Symtomkonstellation (teilweise auch i.e.i. abgekürzt). Multiple Symptome in verschiedenen Organsystemen, getriggert (ausgelöst) durch chemische Substanzen der verschiedensten Art bei Niedrigstkonzentrationen, die in der Allgemeinbevölkerung keine Reaktion hervorrufen, sind die wesentlichen Merkmale dieses Syndroms. Dieser Ansatz führt die bisher praktizierte Grenzwertideologie, die Tatsache nämlich, daß für jeden chemischen Stoff ein erlaubter Grenzwert festgelegt wird, ad absurdum. Die alte Grenzwertideologie läßt Summationseffekte und mögliche Kreuzwirkungen außer Betracht.

Die betroffenen Patienten haben einen enormen Leidensdruck. Ihre Erkrankung wird häufig nicht erkannt. Die Unverträglichkeit diverser Chemikalien zwingt sie in die soziale Isolation. Patienten berichten oft: Ich war bei vielen Ärzten, Allergologen, Neurologen, Toxikologen. Sie behandelten nur einzelne Symptome, stellten aber keine eindeutige Ursache fest. Die Krankheit war zu diesem Zeitpunkt in Deutschland noch kein Begriff.

Wieviele Personen an dieser Hypersensibilität leiden, läßt sich bis jetzt nicht feststellen, weil die zum Teil unerträglichen Schmerzen in allen Teilen des Körpers oft nicht als MCS diagnostiziert werden. Viele Patienten werden als Simulanten oder Spinner abqualifiziert.

WissenschaftlerInnen gehen davon aus, daß das ständig wiederkehrende Unwohlsein auf Organschädigungen zurückzuführen sei. Das Immun-und Hormonsystem sei dabei stets automatisch mitbetroffen durch die toxischen Hirnstammschädigungen, abgesehen von zusätzlichen speziellen Organschäden.

Die MCS-Problematik offenbart einen fehlenden vorsorgenden Gesundheitsschutz. Es ist an der Zeit, beispielsweise die außerordentlich gefährlichen Insektizide generell vom Markt zu nehmen und andererseits die Vergiftungsfolgen aller Luftschadstoffe im Spurenbereich anzuerkennen und im Einzelfall die Opfer entsprechend zu entschädigen.

Hinsichtlich der Situation in Oldenburg zwei Appelle: Bei Neubauten ist es wichtig, auf die Umweltverträglichkeit der verwendeten Materialien zu achten - ganz besonders auch hinsichtlich der MCS-Problematik. Es darf nicht durch (immer wieder angedachte) Billigbauweise und eine damit verbundene erhöhte Belastung durch ausgasende Chemikalien zu einer verschärften Ausgrenzung gerade derjenigen kommen, die ohnehin schon in einer äußerst belasteten Situation leben. Außerdem möge bitte das Rauchen nur an Orten geschehen, von denen keine Beeinträchtigung öffentlicher Bereiche ausgeht.

Weitere Information: Tel. 04407 424 (Q)

Gerold Korbus


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