Oldenburger STACHEL Ausgabe 1/97      Seite 15
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

"Die Welt liegt in den Händen dieser Burschen" (Buchtip)

"An den Börsen und in den Handelsräumen der Banken und Versicherungen, bei Investment- und Pensionsfonds hat eine neue politische Klasse die Weltbühne der Macht betreten, der sich kein Staat, kein Unternehmen und erst recht kein durchschnittlicher Steuerbürger mehr entziehen kann: global agierende Händler in Devisen und Wertpapieren, die einen täglich wachsenden Strom von freiem Anlagekapital dirigieren und damit über Wohl und Wehe ganzer Nationen entscheiden können - weitgehend frei von staatlicher Kontrolle." (S.71)

Ein Gespenst geht um die Welt - das des Neoliberalismus. Ganz real zu fassen ist, wie sein Wirken das Leben der Menschen verändert. Ganz gespentisch wird es jedoch, wenn mensch die Theorien und Verheißungen des Neoliberalismus zu erfassen versucht - sie verflüchtigen sich beim näheren Hinsehen zu nebulöser Ideologie. Und doch hatte der Neoliberalismus in diesem Bereich seinen ersten und entscheidenden Sieg, als er auszog, die Welt wiederzuerobern. Er benebelte die Köpfe der Menschen so erfolgreich, daß sie anfingen zu glauben, sein Wirken sei naturgesetzliches Walten von Naturkräften, denen, von Gott geschaffen, alle Menschen unentrinnbar ausgeliefert seien, so daß der das größte Glück auf Erden erreiche, der die Gesetze des Liberalismus am konsequentesten befolge. Es wird Zeit, sich dem Trommelfeuer der Propaganda aus TV, Presse und Professorenmund entgegenzustellen. Es wird Zeit, sich die Fakten der Globalisierung reinzuziehen, sei es auch noch so ätzend und bedrohlich. Nur so wird der Kopf frei für Alternativen. Zu diesem Zweck will ich ein Buch vorstellen.

Den Geist, den sie riefen..

"Die globale wirtschaftliche Verflechtung ist keineswegs ein Naturereignis, sondern wurde durch zielstrebige Politik bewußt herbeigeführt. Vertrag für Vertrag, Gesetz für Gesetz waren es immer Regierungen und Parlamente, deren Beschlüsse die Barrieren für den grenzüberschreitenden Verkehr von Kaptital und Waren beseitigt haben. Von der Freigabe des Devisenhandels über den europäischen Binnenmarkt bis zur fortwährenden Ausdehnung des Welthandelsabkommens GATT haben Regierungspolitiker der westlichen Industrieländer systematisch jenen Zustand selbst heraufbeschworen, mit dem sie nun nicht mehr fertig werden." (S. 18)

Doch "nicht wir sind es gewesen, die ausländische Konkurrenz ist schuld, erfährt der Bürger in jeder zweiten Nachrichtensendung aus dem Mund derer, die seine Interessen vertreten sollen. Von diesem - ökonomisch falschen - Argument ist es nur ein kleiner Schritt zur offenen Feindschaft gegen alles Fremde. Längst suchen Millionen verunsicherter Mittelstandsbürger ihr Heil in Fremdenhaß, Separatismus und der Abschottung vom Weltmarkt. Die Ausgegrenzten antworten ihrerseits mit Ausgrenzung."(S.21)

"Die Globalisierung muß nicht zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen, aber sie kann, wenn es nicht gelingt, die entfesselten Kräfte der transnationalen Ökonomie sozial zu bändigen. Die bislang formulierten politischen Antworten auf die wirtschaftliche Vernetzung der Welt verneinen, daß dieser Prozeß überhaupt beherrschbar sei. Doch es gibt Instrumente und Wege, die Steuerung wieder in die Hand gewählter Regierungen und ihrer Institutionen zu legen, ohne die Nationen gegeneinander aufzubringen." (S.22) "Die Rückgewinnung der politischen Handlungsfähigkeit, die Wiederherstellung des Primats der Politik über die Wirtschaft ist daher die zentrale Zukunftsaufgabe. Denn schon heute ist vorauszusehen, daß der bisherige Kurs sich nicht mehr lange fortsetzen läßt. Die blinde Anpassung an Weltmarktzwänge steuert die bisherigen Wohlstandsgesellschaften unausweichlich in die Anomie, den Zerfall der sozialen Strukturen, auf deren Funktionieren sie zwingend angewiesen sind. Gegen die Zerstörungskraft, die von der Radikalisierung einer wachsenden Minderheit von deklassierten und ausgegrenzten Menschen ausgeht, wissen Märkte und Multis aber keine Antwort." (S.223)

...hebt die alte Ordnung aus den Angeln

"In einer globalen Zangenbewegung hebt die neue Internationale des Kapitals ganze Staaten und deren bisherige gesellschaftliche Ordnung aus den Angeln. (...) 113 Jahre nach dem Tod von Karl Marx steuert der Kapitalismus wieder in jene Richtung, die der revolutionäre Ökonom für seine Zeit so trefflich beschrieb. ®Die allgemeine Tendenz der kapitalistischen Produktion ist, den durchschnittlichen Lohnstandard nicht zu heben, sondern zu senken oder den Wert der Arbeit bis zu einer Minimalgrenze zu drücken¯, referierte er 1865 vor dem Generalrat der I. Internationale in London." (S.17)

Amerika, du hast es besser?

In dieser Entwicklung liegen die USA wieder einmal vorn. Die liberalen Ökonomen preisen uns dieses Beispiel und verweisen immer wieder auf die Arbeitsmarkt-Statistik: "Unterm Strich seien weit mehr Jobs entstanden als verlorengingen, allein während seiner (Clintons) ablaufenden Amtszeit fast zehn Millionen oder 210000 pro Monat. Die Arbeitslosenrate liege mit 5,3 Prozent niedriger als in allen anderen OECD-Staaten.

(...) Aber seine Bürger müssen schmerzlich dafür zahlen. Denn das produktivste und reichste Land der Welt hat sich zugleich in das größte Billiglohnland der Weltwirtschaft verwandelt. (...) Mehr als der Hälfte der Bevölkerung bescherte der forcierte Wettbewerb den neuen amerikanischen Alptraum: Abstieg ohne Ende. Im Jahr 1995 verdienten vier Fünftel aller männlichen Angestellten und Arbeiter in den USA pro Arbeitsstunde real elf Prozent weniger als 1973. Das bedeutet: seit zwei Dekaden sinkt für die übergroße Mehrheit der tatsächliche Lebensstandard. (...) Zwar wuchs auch zwischen 1973 und 1994 das Bruttosozialprodukt pro Kopf der US-Bevölkerung um ein volles Drittel. Aber gleichzeitig fielen die durchschnittlichen Bruttolöhne für (...) fast drei Viertel der Arbeitsbevölkerung um 19 Prozent - auf nur noch 258 Dollar oder umgerechnet 380 Mark pro Woche. Und das ist nur der statistische Durchschnittswert. Für das untere Drittel der Einkommenspyramide fiel der Lohnschwund noch dramatischer aus: (es) (...) erhält sogar 25 Prozent weniger Lohn als vor 20 Jahren." Zahlreiche Beschäftigte üben mehrere Jobs auf einmal aus.

"Trotzdem ist die amerikanische Gesellschaft insgesamt keineswegs ärmer als früher. Noch nie verfügten die US-Bürger über mehr Vermögen und Einkommen als heute. Nur kommt aller Zuwachs (...) nur noch dem oberen Fünftel (...) zugute." (S. 165) Eine Einkommensuntersuchung in Gro britannien würde sicher ähnliche Ergebnisse zutage fördern.

Frankreich und Deutschland steht diese Entwicklung noch weitgehend bevor. Doch die Rationalisierungswelle ist auch hier ordentlich in Schwung gekommen und übt mächtigen Druck auf alle Beschäftigten und Arbeitssuchenden aus. Trotz Streikerfolge wanken auch hier die Gewerkschaften - immer mehr Bestandteile der Tarifverträge müssen sie aufgeben, die Industriellenverbände blasen zum Halali auf das ganze Tarifsystem. "In der westdeutschen Industrie gingen allein (...) 1991 bis 1994 über eine Million Arbeitsplätze verloren. Und Deutschland steht im internationalen Vergleich noch gut da." (S.145) "In den kommenden Jahren (müssen) weitere 15 Millionen Arbeiter und Angestellte in der Europäischen Union um ihre Vollzeitjobs fürchten (...), beinahe noch einmal so viele, wie im Sommer 1996 schon arbeitslos gemeldet waren. Allein in Deutschland sind mehr als vier Millionen Arbeitsplätze akut gefährdet. Damit könnte sich die Arbeitslosenquote von derzeit 9,7 Prozent auf 21 Prozent mehr als verdoppeln." (S.146)

Mit der Senkung der Kaufkraft in Europa und Nordamerika zerstört das Kapital allmählich seine wichtigsten Märkte. Doch das einzelne Kapital hat damit keine Probleme: "Da die Unternehmen weltweit verkaufen, hängt ihr Überleben nicht mehr von der Kaufkraft (z. B.) der amerikanischen Arbeiterschaft ab." (S. 171)

Während "die Weltelite mit einer 20:80- Gesellschaft innerhalb der bislang wohlhabenden Staaten rechnet, so hat sich dieses Verteilungssystem im Weltmaßstab längst etabliert. (...) Das reichste Fünftel aller Staaten bestimmt über 84,7 Prozent des Weltbruttosozialprodukts, seine Bürger wickeln 84,2 Prozent des Welthandels ab..." (S.47)

Das Werk

Dieser kleine Buchauszug mag anregen, weiterzulesen. Wer trockene Zahlen und (scheinbar) langweilige Ökonomie verabscheut, sollte es trotzdem probieren:

Die Autoren Hans-Peter Martin und Harald Schumann schreiben u. a. für den Spiegel und die taz; das merkt man ihrem Stil an. Manchmal gleitet er nach meinem Geschmack sogar zu sehr ins Anekdotische ab. Als unangenehm habe ich auch empfunden, daß offensichtlich war, daß zwei Autoren am Werk waren, die sich auch nicht besonders gut abgesprochen und Wiederholungen nicht vermieden hatten. Auf den letzten 100 Seiten habe ich vieles schnell überlesen. Trotzdem lohnt sich dieses Werk: Die Globalisierungsfalle, Rowohlt 1996, ISBN 3-498-04381-1, 350 Seiten, 38.

Auf daß Alternativen denkbar werden: der französische Soziologe Boudieux schlägt als "Utopie" wider den unheilvollen Lauf der Globalisierung das Ziel vor, in der EU eine Sozialcharta mit verbindlichen Minimalstandards anzustreben. In eine ähnliche Richtung äußerten sich kürzlich Wissenschaftler auf einer Konferenz in der Uni Oldenburg. Die scheinbare Selbstverständlichkeit der Globalisierung muß zuerst in den Köpfen aufgehoben werden, bevor solche Ziele mehr als Utopien werden können.

achim


Diese Veröffentlichung unterliegt dem Impressum des Oldenburger Stachel. Differenzen zur gedruckten Fassung sind nicht auszuschließen.
Nachdruck nur mit Quellenangabe, Belegexemplar erbeten.

 

 
  Differenzen zur gedruckten Fassung nicht auszuschließen. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Siehe auch Impressum dieser Ausgabe und Haupt-Impressum