Oldenburger STACHEL Ausgabe 5/97      Seite 12
 
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Tabletten oder Beratung?

Psychologen machen Druck auf Bonn

Erst die Logopäden und Krankengymnasten, jetzt die Psychologen. Vom "Reformeifer" im Gesundheitswesen bleibt kaum ein Bereich verschont. Der Zwang zu sparen verunsichert und schadet nicht nur Patienten und Versicherungsnehmer, sondern fördert auch massive Verteilungskämpfe. Die Oldenburger Diplompsychologin Frauke Werther (Mitglied im Landesvorstand des Deutschen Psychotherapeute nverbandes und Mitbegründerin des Oldenburger Arbeitskreises Psychologischer Psychotherapeu tInnen) hat sich dazu in den letzten Wochen mehrfach geäußert. Das Presseecho in Oldenburg war sehr unterschiedlich, die NWZ zum Beispiel übte bei diesem Thema vornehme Zurückhaltung.

In der nächsten Woche wollen die PsychologInnen wie weiland die Krankengymnasten Bonn demonstrativ heimsuchen. Die Oldenburger PsychologInnen schicken gleichzeitig an Oldenburger PolitikerInnen und die MDBs Schütz und Kossendey einen offenen Brief, mit dem auf die gesetzlichen Tücken, die Machtkämpfe im Gesundheitswesen und die prekäre psychotherapeutische Versorgunglage hingewiesen werden soll. Wir drucken ihn hier ab.

Offener Brief an Oldenburger Politikerinnen und Politiker

Aus Sorge um die gegenwärtige Rückentwicklung in der psychologischen Versorgung der Bevölkerung und aufgrund der äußerst schwierigen Situation für frei niedergelassen e psychologische Psychotherapeuten möchte ich mich heute mit der Bitte an Sie wenden, sich für eine Absicherung des bisherigen Standes der Versorgung und für die längst überfällige rechtliche Absicherung des Psychotherapeutenb erufes aktiv einzusetzen.

Ein Gesetz aus dem Jahre 1912, als Kaiser Wilhelm noch unangefochten regierte, bestimmt in Deutschland heute noch, daß ausschließlich Ärzte heilende Behandlungen auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung durchführen dürfen. Dies gilt auch für die Psychotherapie , die vor dem ersten Weltkrieg kaum entwickelt war.

Wirklichkeit und Gesetz klaffen in der Psychotherapie extrem auseinander. Über 3/4 aller ambulanten Psychotherapien werden in Deutschland von Psychologinnen durchgeführt. Auch in stationären und teilstationären Einrichtungen leisten angestellte Diplom- Psychologen einen großen Teil der therapeutischen Arbeit. Die Weiterentwicklung und Forschung wird von unserem Berufsstand getragen.

Psychologen beschäftigen sich vom ersten Tag ihres Studiums an mit der menschlichen Psyche. Bereits im Studium finde eine Vermittlung von therapeutischen Basiskompetenzen statt. Daran schließt sich eine 3-5jährige Therapieausbildung an mit häufig berufslebenslanger Fortbildung und Supervision. Seit über 2 Jahrzehnten fordern deshalb die psychologischen Psychotherapeuten ein Psychotherapeutengesetz, um ihre wirkliche Stellung im Gesundheitswesen endlich rechtlich abzusichern. Zuletzt scheiterte die Reform im Jahre 1994.

Etliche Hilfskonstruktionen sind in den letzten Jahrzehnten entstanden, um diese Gesetzeslücke irgendwie auszufüllen. Dazu zählt das Delegationsverfahren, in welchem erfahrene Psychologen sich in "nichtärztliche " Heilhilfsbehandler verwandeln, um unter dem Dach der Kassenärztlichen Vereinigung, zu Lasten der Kassen abrechnen zu können. Hierbei brauchen sie die Delegation eines Facharztes, der formal weit weniger an psychotherapeutisccher Qualifikation nachzuweisen hat sie selbst. Die Delegationstherapeuten müssen ihre Ausbildung bei ärztlich anerkannten Einrichtungen nachweisen.

Dazu zählt die Kostenerstattung von Psychotherapien bei frei niedergelassenen psychologischen Psychotherapeuten (Kostenerstattungstherapeuten), wenn belegt wird, daß bei Vertragsbehandlern keine rechtzeitige und geeignete Behandlung möglich ist. Die Hälfte aller Psychotherapien wurde bundesweit über diesen Weg finanziert.

Doch diese Krücken dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Gesetzgeber bisher versäumt hat, die Lücke zu schließen.

Vor allem auf Kosten der Patienten unter schamloser Ausnutzung ihres anachronistischen Monopols führt die Bundesvereinigung der Kassenärzte (KBV) seit Herbst 1996 einen bundesweit koordinierten Verdrängungskampf gegen frei niedergelassene psychologische Psychotherapeuten, die im Kostenerstattungsve rfahren arbeiten. Vor Gericht erstritt die KBV das Verbot der geregelten Kostenerstattun g von Psychotherapie durch die Technikerkrank enkasse, die Innungskrankenkassen und die Betriebskrankenkassen. Die KBV nimmt anscheinend ohne Mitgefühl für die Betroffenen das entmutigende und demütigende Suchen nach einem Therapieplatz als erforlichen Preis für ihre Standesinteressen in Kauf. Trotz der entgegensprechenden Zahlen behauptet sie, allein mit ihren Vertragsbehandlern die ambulante psychotherapeutische Versorgung sicherstellen zu können. Angesichts der oben erwähnten Tatsache, daß die Hälfte der kassenfinanziert en Psychotherapien von frei niedergelassenen psychologischen Psychotherapeuten durchgeführt wird, ist das eine ungeheuerliche Realitätsverzerrung. Auch in der Oldenburger Region sind die Vertragsbehandler nicht in der Lage, den ambulanten Behandlungsbedarf ohne die außervertraglich arbeitenden qualifizierten Psychologen zu sichern. In den KV-Bereichen Oldenburg und Wilhelmshaven stehen ca. 180 Vertragsbehandler einer Bevölkerung von knapp 1 Million gegenüber. Forschungstudien, durchgeführt im Auftrag des Bundesministerium s für Gesundheit, gehen davon aus, daß 2,1%- 5,3% der Bevölkerung einen Therapieplatz brauchen und suchen. Das wären mindestens 20.000 Therapiesuchende in unserer Region. Jeder Behandler müßte demnach über 110 Patienten behandeln, was schlicht unmöglich ist, wenn wirkliche Psychotherapie entsprechend den Richtlinien durchgeführt würde. Ganz anders als ein medizinisch orientierter Arzt behandelt ein Psychotherapeut durchschnittlich 20-40 Patienten in der Woche.

Deshalb werden in Oldenburg dank der Einsicht etlicher Krankenkassen auch wieder neu Kostenerstattungen für Psychotherapien bei außervertraglichen Psychotherapeuten bewilligt. Den betroffenen, meist besonders schwer psychisch beeinträchtigten Patienten wird jedoch ein demütigender und langandauernder Hindernislauf zugemutet, bis es soweit ist. Viele resignieren unterwegs. Andere finden sich in langen Warteschleifen bei Vertragsbehandlern wieder, werden mit 25- Minuten-Gesprächen über Monate hingehalten oder mit Infusionstherapien und mit Medikamenten abgefertigt. Chronifizierung, Folgeschäden - auch für die nächste Generation - sind vorprogrammiert.

Warum wird von der Vereinigung der Kassenärzte dennoch behauptet, die Behandlung sei sichergestellt?

Es ist eine rein standesegoistische Strategie, um den alleinigen Zugang zu den kontrollierteren Kassentöpfen zu sichern. Den ärztlichen Psychotherapeuten, die in der KBV eine extreme Minderheitenrolle einnehmen, hat diese Kampagne eher geschadet, und es mehren sich zum Glück kritische Stimmen in diesen Reihen. Angst und die Unfähigkeit, über den Tellerrand des Standes zu blicken, läßt viele jedoch am Ausgrenzungskurs festhalten. Besonders empörend ist die Tatsache, daß qualifizierte psychologische Psychotherapeute n ausgegrenzt werden, während Mediziner weit weniger an Qualifikation nachzuweisen haben, um den Facharzttitel zu erhalten. Dieses wird langfristig die Qualität der Psychotherapieve rsorgung gefährden, wenn nicht gesetzlich einheitlich für Psychologen und Mediziner der Zugang zum Psychotherapeutenberuf geregelt wird.

Die Psychotherapeutenverbände, die diesen Kurs mitmachen, begünstigen den gegenwärtigen Trend zu Psychopharmaka.

Vor allem die heranwachsende Generation erhält zunehmend mehr Psychopharmaka verschrieben. Es fängt schon im Kindergarten an. Krankenkassen und Suchtstellen berichten, daß sich der Verbrauch bei Jugendlichen seit Anfang der 90er Jahre verdoppelt hat. Die sozialemotionalen Folgen für die Konsumierer und ihre Angehörigen sind nicht absehbar. Die gesellschaftlichen Kosten ebensowenig. Schon jetzt gibt es in Deutschland 800000 Tablettenabhängige - meistens Frauen. 80% der Abhängigen erhalten ihre Droge über Rezept. Der Einstieg ist häufig eine Fehlbehandlung.#

ql Wo aber psychotherapeutische Mittel bereitstehen darf nicht zur Chemie gegriffen werden. Das ist ein Gebot der Menschlichkeit. Es wird heute mehr für Psychopharmaka von den Kassen ausgegeben als für Psychotherapie.

Geldanlageberater der NWZ empfahlen am 24.4.97, Pharmaaktien zu kaufen wegen der günstigen Gewinndynamik und der Garantie, daß es eine Wachstumsbranche bleibt. Auch die Vorbeugungsprogramme der Krankenkassen sind in einer diffamierenden Kampagne (Stichwort "Bauchtanz") kurzerhand abgeschafft worden. Nichtmedizinische Berufe sollen hinausgedrängt werden. Die Sprachheiltherapeu ten und Krankengymnasten konnten bis jetzt für ihre Arbeit das Schlimmste abwenden.

Das Ausmaß des inhumanen Umgangs mit Patienten bei der Ausgrenzungskampagne gegen psychologische Psychotherapeuten im Kostenerstattungsverfahren hat dazu geführt, daß der Druck auf den Gesetzgeber wieder gewachsen ist. Im Bundestag ist wieder Bewegung in Richtung Psychotherapeutengesetz zu verzeichnen. Lassen Sie bitte nicht zu, daß dies eine Scheinbewegung wird! [...]

Dipl.-Psych. Frauke Werther


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