Oldenburger STACHEL Ausgabe 5/98      Seite 16
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Wenig politisches Interesse

Die Stadt Oldenburg gibt sich die Ehre: Seine Hoheit, der 14. Dalai Lama, geistliches und weltliches Oberhaupt der Tibeter, kommt am 2. und 3. November in die Provinzstadt Oldenburg. Das Thema, um das es in einem Kolloquium im PFL und bei der öffentlichen Veranstaltung am 3. November in der Weser-Ems-Halle gehen wird, ist "Frieden und soziale Gerechtigkeit im nächsten Jahrhundert" im allgemeinen und die politische Situation in (der Autonomen Region) Tibet als Teil der Volksrepublik China im besonderen.

Am 20. April, just an dem Tag, wo die Nachricht von der Freilassung des chinesischen Studentenführers Wang Dan durch die Presse ging (die praktisch eine Abschiebung erster Klasse war), lud die Stadt Oldenburg zu einer Pressekonferenz mit Frau Chungdak Koren, die das Tibet-Büro für Uno-Angelegenheiten in Genf leitet. "Ein interessanter Termin", dachte ich mir und ging hin, um mich über die Situation der Tibeter zu informieren. Die meisten Kolleginnen und Kollegen der lokalen Presseorgane waren jedoch offenbar aus einem anderen Grund gekommen.

Vorbereitung auf den Besuch

Natürlich war Frau Koren in erster Linie zur Vorbereitung des Besuches von Seiner Hoheit, dem Dalai Lama, nach Oldenburg gereist. Und so konzentrierten sich die Fragen nach einem kurzen, in Englisch gehaltenen Einführungsreferat von Frau Koren ausschließlich auf das kommende Ereignis des Besuchs.

Keine Fragen zu Tibet

Als die Fragen der Journalisten beantwortet waren und ein Blick in die Runde von der Kollegin zu meiner linken - sie vertrat das städtische Presseamt - ergeben hatte, daß keine weiteren Fragen zu erwarten waren, entstand eine kurze Unruhe, da sich einige schon von ihren Plätzen erhoben. Die Kollegin nahm das mit Verwunderung zur Kenntnis und fühlte sich zu der berechtigten Frage veranlaßt, ob denn keiner mehr etwas zur Situation in Tibet wissen wolle - wirklich niemand? Doch, ich wollte, und so machte ich die Bekanntschaft von Frau Koren, die ihre Laufbahn als politische Aktivistin für die Interessen Tibets begonnen hatte und jetzt die offizielle Repräsentantin der tibetischen Exilregierung für Mittel- und Südeuropa ist.

Die Situation ist kritisch

"We are going to a very crucial time today (einer kritischen Zeit entgegen)" hatte Chungdak Koren ihr Statement begonnen. Dann hatte sie die sechs Exiltibeter angesprochen, die am 10. März in Neu Dheli in einen unbegrenzten Hungerstreik eingetreten waren, in der Hoffnung, die UNO zu einer Neueröffnung der Debatte über die Zukunft Tibets zu bewegen.

Als die chinesische Volksbefreiungsarmee zu Beginn der 50er Jahre in Tibet einmarschierte, wurde sie dort mit einem Staatswesen konfrontiert, welches den kommunistischen Idealen in keiner Weise zu entsprechen schien: Einer Theokratie, einem Gottesstaat also - in Jahrhunderten gewachsen -, wo die buddhistischen Klöster zum bestimmenden Machtfaktor in der Gesellschaft geworden waren, und an deren Spitze ein "Gottkönig" stand: der Dalai Lama.

Opium für das Volk

Die Chinesen sahen sich folglich als Heilsbringer, die das rückständige Land in das moderne Zeitalter führen und gleichzeitig das tibetische Volk aus den Fängen des kirchlichen Feudalsystems "befreien" wollten. Die Klöster wurden aufgelöst, die Doktrin wurde verbreitet, daß Religion "Opium für das Volk" sei. Die Proteste der so "Befreiten", die eine sanftere Form der Modernisierung vorgezogen hätten, wurden mit Gewalt erstickt. Den größten Terror erlebte Tibet - wie das gesamte China - in den Jahren 1966 bis 1976 während der Kulturrevolution. Fast alle Klöster wurden zerstört, die Mönche gefoltert und umgebracht, religiöse Kunstgegenstände zerschlagen und verbrannt. Es war der Versuch, den Buddhismus, die tibetische Kultur systematisch auszulöschen.

Nach 1976 begann man, die Fehler einzusehen. Reformen wurden angekündigt. 1980 verkündete die Regierung Religionsfreiheit im ganzen Land. In Tibet begann der Wiederaufbau der zerstörten Klöster.

Die heutige Bedrohung

Die größte Bedrohung für das tibetischen Volk besteht nach den Ausführungen von Frau Koren heute in der Überfremdung durch die Zuwanderung von Chinesen aus den übervölkerten Regionen des chinesischen Kernlandes in das dünnbesiedelte Tibet. Dieser Bevölkerungstransfer wird von der chinesischen Regierung forciert als ein Mittel zur kulturellen Angleichung der Minderheiten im Lande. Sechs Millionen Tibeter stehen so inzwischen siebeneinhalb Millionen Chinesen gegenüber. Sie sind dadurch in ihrem eigenen Land zu einer Minderheit geworden.

Das Staatsvolk der Chinesen umfaßt nach neueren Schätzungen 1,3 Milliarden Menschen - mit zunehmender Tendenz. China ist in vielen Teilen bereits überbevölkert, wodurch die Umverteilung der Bevölkerung aus dem Kernland in die Randgebiete des riesigen Staatsgebiets etwas Zwingendes bekommt. So wird das Volk der Tibeter, sofern sich nichts Entscheidendes ändert, über kurz oder lang in der großen Masse des chinesischen Volkes aufgehen. Seine kulturelle Identität wird langsam dahinschwinden und sich bald auf einige wenige touristische Überbleibsel beschränken.

Das moderne Tibet

Am deutlichsten zeigt sich diese Entwicklung in der Hauptstadt Lhasa, deren Modernisierung in den letzten Jahren mit Riesenschritten vorangetrieben wurde. Während die Tibeter in den ländlichen Gebieten noch vielfach in traditioneller Weise als Bauern und Viehzüchternomaden leben, gleichen die tibetischen Städte heute meist den Städten im übrigen chinesischen Staatsgebiet.

Seit 1959 ist Lhasa auf das 12-fache seiner ursprünglichen Stadtfläche angewachsen. Seit 1993 haben die Chinesen zahlreiche neue Stadtviertel in Fertigteil-Bauweise errichtet, während die mittelalterlichen Häuser der Tibeter immer mehr diesem Fortschritt weichen müssen. Wohnhäuser ohne Toiletten und fließendes Wasser sollen in den nächsten Jahren bis auf wenige repräsentative Gebäude abgerissen und durch neue Plattenbauten ersetzt werden. Die Altstadt von Lhasa - ohnehin nur noch ca. zwei Prozent der Stadtfläche - würde mit diesem Plan praktisch ausradiert werden. Weder die Achtung vor den religiösen Anschauungen und dem jahrhundertealten Lebensstil der Tibeter noch die Tatsache, daß die UNESCO die Altstadt von Lhasa als Weltkulturerbe bewahren möchte, können diesen Plänen Einhalt gebieten. Die Sinisierung Tibets durch Zuzug von immer mehr Chinesen und die planmäßige Beseitigung des tibetischen Kulturerbes ist unumkehrbar.

Was sagt der Dalai Lama?

Die Ansichten des Dalai Lama sind angesichts dieser Lage von einem bewundernswerten Realitätssinn geprägt. Er geht davon aus, daß es nach ihm keinen Dalai Lama geben wird. Wenn eine Institution, die vor 600 Jahren entstanden ist, in der modernen Zeit ihre Bedeutung verliert, sei es logisch, sie abzuschaffen, sagte der Dalai Lama im April einer indischen Zeitung. Für die Zukunft Tibets lautet sein Vorschlag nicht Unabhängigkeit von China, sondern Selbstbestimmung des tibetischen Volkes in kulturellen Fragen und inneren Angelegenheiten. Frau Koren könnte sich ein Verhältnis zu China vorstellen, wie es zwischen Dänemark und Grönland besteht: Außenpolitisch gehört Grönland zum Dänischen Königreich, genießt aber weitgehende Autonomie.

Die Zukunft Tibets?

Die Reformfreudigkeit der derzeitigen Pekinger Führung darf nicht überbewertet werden. Frau Koren zumindest mag noch nicht recht an eine Besserung der Verhältnisse in China glauben. Obwohl die Hoffnung darauf in letzter Zeit etwas genährt wurde, ist eine Liberalisierung zur eine Liberalisierung zur Zeit noch ausschließlich auf wirtschaftlichem Gebiet zu beobachten, und es gibt bislang erst wenige Anhaltspunkte in Hinblick auf ein Erstarken der allgemeinen Demokratiebewegung in China.

tog


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