Oldenburger STACHEL Ausgabe 11/98      Seite 4
 
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Atomausstieg: Ungedeckter Scheck auf die Zukunft?

Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik verkündet eine Bundesregierung den Atomausstieg als Ziel. Niemand braucht sich mehr mit einer CDU-Ministerin Merkel über ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren für zusätzliche AKWs neuen Typs streiten, die von der Atomindustrie in der Hoffnung auf einen Wiederaufstieg ausgebrütet wurden. Jetzt geht es "nur noch" um den konkreten Einstieg in den Ausstieg. Das ist wahrlich ein Anlaß zur Freude.

Doch ringsum herrscht Skepsis, von Euphorie keine Spur. Konkrete, zeitlich begrenzte Ausstiegsschritte werden in Bonn mit keinem Wort angedeutet, nicht einmal auf konkrete Stillegungsabsichten haben sich SPD und Grüne geeinigt. Die Bundesregierung droht den Atomkraftnutzern lediglich an, sie werde den Ausstieg zwangsweise anordnen und in den Genehmigungsverfahren schärfere Maßstäbe anlegen sowie den Kostendruck erhöhen, wenn mit den AKW-Betreibern nicht innerhalb eines Jahres eine Einigung auf ein Ausstiegsprogramm zustande gekommen ist. Doch herrscht bei beiden Koalitionspartnern ein großer Respekt vor den Entschädigungsforderun gen der Atommafia - bekanntlich ist Sparen eins der obersten Prinzipien. Und Kanzler Schröder läßt schon vor den Verhandlungen mit den Energieversorgungsgesellschaften öffentlich verlauten, man solle die Industrie nicht überfordern.

Konflikt angesagt

Währenddessen machen sich die AKW-Nutzer fit für den Weiterbetrieb unter neuen Bedingungen. Für das älteste deutsche AKW Obrigheim z.B. ist ein neues Zwischenlager zur Genehmigung angemeldet worden - mit dem Hinweis, damit könne das AKW nun auch unter den neuen Bedingungen weiterbetrieben werden. RWE-Chef Kuhnt teilte am 5.9. mit, er erwarte bei einer bislang unterstellten Lebensdauer der Anlagen von 40 Jahren, daß Obrigheim mindestens bis zum Jahr 2009 und das jüngste AKW, Neckarwestheim II, bis über 2029 hinaus Strom produzieren könne. Mülheim-Kärlich könne sogar bis fast 2040 in Betrieb bleiben.

Es ist abzusehen, daß es zu einem heftigen Konflikt zwischen Bundesumweltministerium und Atommafia kommen wird, bei dem Minister Trittin ziemlich unter Druck geraten wird. Wohl deshalb mißbilligte die Vorsitzende der niedersächsischen Grünen-Fraktion, Rebecca Harms aus dem Wendland, den Kompromiß der neuen Regierung zum Atomausstieg. Sie erklärte, ein Streit in der neuen Bonner Koalition sei nur verschoben. Den Grünen bleibe vorerst nichts anderes übrig, "als den Schröderschen Weg mitzugehen", sagte sie in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (s. SZ 19.10.98). Örtliche oder landespolitische Politiker der SPD geben mit ihrer Haltung kaum Anlaß zu der Hoffnung, auch sie unterstützten jetzt die rasche Stillegung der Atomanlagen (siehe nebenstehende Stellungnahme der Grün-Alternativen Kreistagsfraktion Stadland). In dem Streit für ein kurzfristiges Ausstiegsprogramm wird das grüne Umweltministerium wahrscheinlich ziemlich allein dastehen. Die Frage ist, wie weit es in diesem Streit gehen und welche Ausstiegsschritte es durchdrücken kann. War es im Schwung des Wahlsieges schon nicht möglich, hier mit Schröder zu konkreten Vereinbarungen zu kommen, so wird es in einem Jahr noch schwieriger sein, einen Koalitionsbruch zu riskieren. Alle Neuen in der Regierung werden sich gerade eingearbeitet und erste Erfolge unmittelbar vor Augen haben. Und wegen einem AKW das Außenministerium aufgeben?

"Entsorgungs"konzept

Während vor der nächsten Bundestagswahl möglicherweise nur wenige Atomkraftwerke stillgelegt werden und ein Ausstiegsprogramm eher auf einen Zeitraum von Jahrzehnten ausgelegt sein wird, sollen in der Frage der Atommüll"entsorgung" schon in Jahresfrist Fakten geschaffen werden. Zum zukünftigen Umgang mit dem Atommüll stellt der ehemalige Bremer Umweltminister Ralf Fücks in der Grünen Bundeszeitschrif t Schrägstrich 9/98 folgendes "alternatives Entsorgungskonzept" vor (Seite 14 ff.):

"Die (Grüne) Heinrich-Böll-Stiftung hat ... eine Studie für ein "alternatives Entsorgungskonzept" unter der Prämisse eines zügigen Ausstiegs aus der Atomenergie in Auftrag gegeben. (...) ... folgende Prämissen (werden) entwickelt:

(...) 2. Beendigung der Wiederaufarbeitung von Brennelementen aus deutschen AKW's im Ausland. (...)

3. Sicherer Einschluß der stillgelegten AKW's für einige Jahrzehnte statt schneller Abriß.

4. Errichtung eines nationalen Endlagers. Das minimiert die Kosten und ermöglicht die Konzentration auf den bestmöglichen Standort. Atommüllexport wird als Form des Risikoexports und der Flucht vor dem Verursacherprinzip abgelehnt. (...)

Bis zur notwendigen Inbetriebnahme eines zentralen Endlagers (etwa im Jahr 2030-2035) wird eine dezentrale Vorgehensweise empfohlen. Die abgebrannten Brennelemente, die Abfälle, die aus der Wiederaufarbeitung zurückzunehmen sind, sowie ein großer Teil der sonstigen radioaktiven Abfallprodukte werden an den jeweiligen Kraftwerkstandorten in Behälterlagern zwischengelagert. Für Brennelemente und den radioaktiven Müll aus der Wiederaufarbeitung (der den Ursprungskraftwerken zugeordnet werden soll) sind dazu neue Behälterlager zu errichten. Die Aufbereitung für die spätere Endlagerung wird für die meisten Abfälle gleichfalls an den jeweiligen Kraftwerksstandorten durchgeführt. Auch dafür sind entsprechende technische Kapazitäten zu schaffen. (...)

Das Endlager Morsleben ist umgehend zu schließen. Die Endlager Gorleben und Schacht Konrad sind nicht weiterzuverfolgen. Statt dessen wird die Neueröffnung eines transparenten Verfahrens zur Verständigung über Standortkriterien und zur Auswahl eines geeigneten Standorts vorgeschlagen. (...)

Es liegt auf der Hand, daß auch diese alternative Entsorgungsstrategie nicht konfliktfrei umzusetzen wäre - weder an den AKW-Standorten, die noch auf Jahrzehnte ihre radioaktiven Altlasten beherbergen müßten, noch an den Standorten, die in ein neues Suchverfahren für ein Endlager einbezogen würden. Aber sowenig es eine risikolose "Entsorgung" gibt, kann es eine unumstrittene Strategie für den möglichst verantwortungsvol len Umgang mit der strahlenden Erbschaft der Atomindustrie geben. Voraussetzung für einen akzeptablen Weg in der Entsorgungspolitik ist ohnehin ein verbindlicher Ausstiegsbeschluß aus der Atomenergie."

Endlager ab 2030?

Nur - wann ist ein Ausstiegsbeschluß verbindlich und unwiderruflich? Das wird die Streitfrage sein. Das Ergebnis dieser Diskussion wird nicht von der Frage zu trennen sein, welche Form der Atommüllagerung die Anti-AKW-Bewegung zu akzeptieren bereit ist. Die Koalitionsvereinbarungen und Äußerungen des neuen Umweltministers deuten darauf hin, daß er den von Fücks beschriebenen "Entsorgungsweg" anstrebt. In einem Interview vom 3.11.98 kündigte er u.a. ein neues "ergebnisoffenes" Standortverfahre n für ein Endlager an. Die Bestimmung Gorlebens bezeichnete er als "willkürlich": "Es hat ... nur einen Grund gegeben, warum Gorleben gewählt worden ist: Weil dieses Areal fast schon auf dem Gebiet der DDR lag. Wenn man ein Endlager braucht, und man braucht das ungefähr ab 2030, dann muß es ein faires, ergebnisoffenes Standortverfahren geben." Auf den Einwand, "ergebnisoffen" heiße aber, daß es auch auf Gorleben zulaufen könne, antwortete Trittin:"Offen ist offen." (SZ 4.11.98) Es ist kein Zufall, daß es auf der Welt noch kein absolut sicheres Endlager gibt; die Anforderung, den Müll für mehr als 100.000 Jahre hermetisch von Wasser und Luft abschließen zu müssen, ist nur sehr schwer zu erfüllen. Es kann durchaus sein, daß in Deutschland solch ein Lager nicht zu finden ist. Der Zwang, nach Überfüllung der Zwischenlager die riesigen Mengen strahlenden Mülls sofort unter die Erde bringen zu müssen, kann durchaus dazu führen, daß als "kleinstes Übel" eine naheliegende Lösung ausgewählt wird. Sind dann immer noch Atomkraftwerke in Betrieb, wird solch eine Lösung sicher gegen einen großen Teil der Anti-AKW-Bewegung durchgesetzt werden müssen, eventuell wie bisher mit Polizeieinsätzen.

Umstrittene Zwischenlager?

Auch die zwischenzeitliche Lagerung des Atommülls könnte nicht "unumstritten" sein. Die Cogema hat bereits angekündigt, daß sie beabsichtige, die noch in Frankreich lagernden 95 % des deutschen Atommülls kurzfristig zurückzuschicken. Allein aus Deutschland und Japan sind 6000 Tonnen hochradioaktiver Atommüll nach La Hague transportiert worden. Minister Trittin vermutet eine Größenordnung von 110 Transporten, die unmittelbar anstehen. Hier ist eine schnelle Lösung gefragt. Zwischenlager an den AKW-Standorten sind wahrscheinlich der einzige Ausweg. Auch diese kurzfristige Mülllagerung wird von der Anti-AKW-Bewegung nur akzeptiert werden, wenn das Endgültige des Ausstiegs in den Fakten, sprich AKW-Stilllegungen, zu erkennen ist.

Bisher galt der Grundsatz: keine Zustimmung zu Mülltransporten und -lagerung, solange noch Atommeiler betrieben werden und weiterer Müll erzeugt wird. Transport und Mülllagerung haben sich als die empfindliche "Achillesferse" der Atomindustrie erwiesen, wo sie am ehesten unter Druck gesetzt werden kann. Ist erst einnmal der Müll in Zwischenlagern untergebracht und ein Endlager benannt, hat die Anti-AKW-Bewegung ihr wichtigstes "Faustpfand" aus der Hand gegeben. Hier stellt sich deshalb die Frage: Lohnt es sich, das zu akzeptieren? Was wird dafür geboten? Es könnte ein Horrorszenario drohen: Wird nach der nächsten Bundestagswahl immer noch ein wesentlicher Anteil des Stroms in AKWs erzeugt, könnte eine andere politische Mehrheit im Bundestag frohgemut den Wiedereinstieg ins Atomgeschäft versuchen. Die wichtigsten Hindernisse hätte dann Rot-grün aus dem Weg geräumt: Transport und Lagerung von Atommüll.

Nicht still abwarten!

Alles reduziert sich auf die Frage, wie weitgehend das Umweltministerium sich durchsetzen kann und wie viele Atomkraftwerke in den nächsten vier Jahren vom Netz genommen werden. Von der Standhaftigkeit und dem Verhandlungsgeschick Trittins wird viel abhängen. Die anderen Grünen, aber auch die Anti-AKW-Bewegung sollten ihn mit dieser großen Verantwortung nicht allein lassen, sondern lautstark ihre Meinung äußern.

achim

Grün-Alternative Kreistagsfraktion zu Esensham

"(...) Im Landkreis Wesermarsch wies (SPD-) Landrat Zempel noch am Bundestagswahlabend auf die Notwendigkeit einer neuen Politik mit u.a. dem Ausstieg aus der Atomkraft hin. Die Politik müsse dafür jetzt die Rahmenbedingung en schaffen, so Zempel am 27.9.98. Als unsere Fraktion im Kreistag acht Tage später einen Antrag nicht zur endgültigen Stillegung des AKW Esenshamm, sondern dazu (stellte), daß der Kreistag Bundes- und Landesregierung auffordert,

- unverzüglich eine Schwachstellenanalyse und ein Castor(transport)-Gefährdungsgutachten durch unabhängige Gutachter in Auftrag zu geben und

- daß das AKW zumindest bis zur Auswertung der geforderten Gutachten wieder außer Betrieb genommen werden müsse und Castor-Transporte wegen der nachgewiesenen Fehlkonstruktion der Behälter endgültig einzustellen seien,

war es Landrat Zempel, der für CDU und SPD diesen Antrag ablehnte. Soweit zur Glaubwürdigkeit einzelner Politiker.

SPD glaubwürdig?

Das zuständige Umweltministerium Niedersachsen hat es durch Minister Jüttner seit dem 12.7.98 nicht für nötig gehalten, auf ein Gesprächsangebot des Arbeitskreises Wesermarsch (...) überhaupt zu antworten. Minister Jüttner pflegte währenddessen intensiv den Kontakt mit der Atomindustrie und ließ das AKW Esenshamm eine Woche nach der Bundestagswahl ohne Sicherheitsüberprüfun g durch unabhängige Gutachter wieder ans Netz gehen.

Herr Jüttner setzt weiterhin als Gutachter den TÜV ein, der an den Vorkommnissen maßgeblichen Anteil hat.

Wie weiter in Esenshamm?

(...) Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung sagt hinsichtlich des AKW Esenshamm u.a. folgendes aus:

(...) Der Betreiber eines Atomkraftwerkes soll "am Kraftwerkstandort oder in der Nähe Zwischenlagerkapazitäten" schaffen. Beim AKW Esenshamm ist ein Lager für leicht- und mittelradioaktive Abfälle fürs AKW und das AKW Stade vorhanden; eine Konditionierungsanl age ist im Bau; für hochradioaktive Brennelemente, inkl. Plutonium-Mischoxid- Brennelemente, ist ein Abklingbecken und ein zusätzliches Kompaktlager vorhanden.

Unsere Fraktion wird zukünftig forciert folgendes hinsichtlich des AKW Esenshamm einfordern:

a) atomunabhängige Gutachter statt TÜV u.ä.

b) Castor-Transporte sind wie Transporte leicht- und mittelradioaktiver Abfälle sofort endgültig einzustellen

c) sofortiger Stop der Nutzung der Wiederaufarbeitungsanlagen und des Wasserendlagers Morsleben

d) kein Bau zusätzlicher Zwischenlager beim AKW Esenshamm, bevor nicht der unwiderrufbare Atomausstieg beschlossen ist

e) sofortige sozialverträgliche Stillegung des AKW Esenshamm

f) sofortiger Aufbau eines umweltfreundlichen Energiesystems...

Mit umweltfreundlichen Grüßen

i.A. Jürgen Janssen und Hans-Otto Meyer-Ott


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