Oldenburger STACHEL Ausgabe 3/99      Seite 12
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Wer sind die Türken?

Wer sind die Kurden?

Sowohl die Türken als auch die Kurden sind keine Fremden mehr in diesem Lande. Aber dennoch ist dieses Land fremd zu uns. Es ist knapp vierzig Jahre her, daß die ersten türkischsprachigen Arbeiter dem Land und dessen Menschen begegnet sind.

Kapellen musizierten damals, als die Gast-Helden des Orients die Bahnhöfe der BRD betraten. Seitdem sie hierher kamen (vielleicht auch erst ein paar Jahre später), hat ein großer Teil der Deutschen sich nur für das Datum deren Rückfahrt interessiert.

Bis heute haben selbst etliche linksorientierte keine Ahnung, wer eigentlich Kurden und Türken sind, ob Kurdisch ein Dialekt vom Türkischen ist, wieviel Kurden in der Türkei leben? Diese und ,hnliche Fragen sind für viele Menschen noch nicht geklärt. Oder besser gesagt, viele stellen sich diese Fragen nicht einmal.

Darum finde ich es nötig, daß die - für manche bereits bekannte - Geschichte von Kurden in einer verkürzten Form am Beginn dieses Artikels steht.

Ein bißchen Geschichte

Im Osmanischen Reich gab es sehr viele Völker. Die Kurden waren eines dieser Völker und lebten damals, wie heute, zwischen und um die beiden Flüsse Euphrat und Tigris herum. Wie alle anderen Völker auch haben die damaligen Türken dieses Land "Kurdistan" genannt. Kurdistan hatte im Osmanischen Reich eine Art von Autonomie. Diese Art von Autonomie nennt man im alten Türkisch "Muhtariyet".

Kurden leben seit mehr als 4.000 Jahren in ihrer heutigen Heimat. Ihr Land Kurdistan ist ca. 550.000 km2 groß. Weil es bis jetzt keine vernünftige Volkszählung gegeben hat, kann man keine genaue Zahlen nennen, aber eine Schätzung der Zahl der Bevölkerung liegt - inklusive der Kurden außerhalb Kurdistans - bei 30 Millionen.

Die Sprache Kurdisch wird zu den indo-germanischen Sprachen gezählt und gliedert sich in drei große Dialekte. Der meist gesprochene Dialekt Kurmanci wird fast von 75% der Bevölkerung gesprochen. Die anderen großen Dialekte heißen Sorani und Zazaki. Kurden haben in ihrer Geschichte, auf ihrem heutigen Territorium viermal Staaten gegründet. Diese hießen: Karduk, Goti, Mervani und Med (der kurdische TV Sender MED-TV hat sich danach benannt.) Mit der französischen Revolution sind die Völker der Welt auf die Idee gekommen, reine Nationalstaaten zu gründen. Das erste kurdische Nationalbewußtsein l,ßt sich schon vorher, bei einem kurdischen Dichter, mit dem Namen Ahmede Xani im 16. Jahrhundert, finden.

Die Kurden haben auch wegen des aufkommenden Bewußtseins gegen das Osmanische Reich - im Jahre 1805 - unter der Führung von Abdurrahman Balaban, im heutigen Irak in Süleymaniye, einen Aufstand versucht, allerdings ohne Erfolg. Später haben die Kurden in verschiedenen Orten Kurdistans insgesamt 27mal für die Anerkennung als eigene Nation revoltiert. Zu den wichtigen Aufständen kann man "S÷eyh Sait", "Dersim", "Agri" und den heutigen Aufstand zählen. Auf den letzten Aufstand werde ich gleich zurückkommen.

Im ersten Weltkrieg hat das Osmanische Reich auf das falsche Pferd gesetzt, und am Ende des Krieges stand es auf der Seite der Verlierenden. Das Osmanische Reich war sowieso durch viele Aufstände erheblich geschwächt. Und dieser Schlag war der letzte Schlag für das schwache Reich. Trotz alledem besaß das Osmanische Reich noch viele Länder. Kurdistan war eins von diesen.

Geographisch wichtige Lage

Geographisch betrachtet liegt Kurdistan an einem wichtigen Punkt. Früher hat man darunter "die Seidenstraße" verstanden. Seit der Entdeckung des Öls hat man darunter "Öl und Wasserquellen" verstanden. Daß Kurdistan in einem wasserarmen Gebiet zwei wichtige und große Flüsse beheimatet, war für viele westliche Länder ein Grund, um ihre imperialistischen Pläne dort zu realisieren.

Weder Groß-Britannien noch Frankreich wollte dort einen starken Staat sehen. Deshalb haben diese Länder nach dem Ersten Weltkrieg das Osmanische Reich besetzt. Später kamen auch Italien und Griechenland nach Anatolien.

Weil die Besetzer in ihren Besatzungszonen nicht ewig bleiben wollten, haben sie sich etwas einfallen lassen. Sie wollten dort unter ihrer Kontrolle Länder gründen lassen, um dieses Gebiet - anders gesagt die Öl- und Wasserquellen - weiter ausbeuten zu können. Mit dem Vertrag von "Sevrier" haben sie dieses Ziel verfolgt. Die "guten, modernen, gerechten usw. usf." westlichen Länder wollten auch die Kurden "befreien!"

Nach der Besetzung hat Mustafa Kemal Atatürk gegen o. g. Länder ein Krieg begonnen. Er hat in Erzurum und Sivas (Städte in der Türkei) unter anderem mit vielen kurdischen Herren gesprochen und um ihre Hilfe gebeten. Im Jahr 1918 versprach Mustafa Kemal den Kurden, ein gemeinsames und freies Land zu gründen. Das Land sollte Kurden und Türken zusammen gehören. Bis zum Ende des Krieges hat M. Kemal dieses erzählt. Aber nur bis zum Ende des Krieges.

Im September 1923 haben die Kurden und die Türken das gemeinsame Ziel erreicht und den Krieg gewonnen. Aber M. Kemal hat sein Versprechen vergessen und wollte, daß das Land denen gehört, die sich als Türken bezeichnen. Das unterstrich er in einer Rede mit folgenden Worten: "Sie sollen stolz sein, sich Türken zu nennen".

Im September 1917 haben sich bekanntlich die Bolschewisten in Rußland durchgesetzt und die Monarchie des Zaren beendet. Um sich vor dieser "kommunistischen Gefahr" zu schützen, haben sich die westlichen Länder für den Partner Türkei entschieden und in Lausanne im Jahre 1923 einen Vertrag unterschrieben. In dem Vertrag stand kein Wort von Kurdistan. Das war ein neuer Anfang des kurdisch-türkischen Konfliktes.

Neuer Abschnitt des Konfliktes

Sofort nach der Gründung des türkischen Staats ging M. K. Atatürk mit einem unerwarteten Assimilationsterror gegen das kurdische Volk vor. Jeder kurdische Aufstand wurde im Rahmen dieser Terrorpolitik brutal niedergeschlagen.

Danach ging alles konsequent weiter. Es wurden Hunderte von Gesetzen gegen das kurdische Volk erlassen. Das bekannteste dieser Gesetze ist das Verbot der kurdischen Sprache. Das Verbot wurde am Ende der 80er Jahre theoretisch aufgehoben. Praktisch ist es noch da.

DieKurdische ArbeiterparteiKurdische Arbeiterpartei Kurdische Arbeiterpartei PKK oder der letzte Aufstand

In den 70er Jahren gab es in der Türkei eine ganz wichtige linke Studentenbewegung, und Abdullah Öcalan war damals in Ankara einer von vielen Studenten, die in dieser Bewegung waren. Er und seine Genossen gründeten 1978 eine radikale Untergrundpartei mit dem Namen "Kurdische Arbeiterpartei". Diese Partei wollte Kurdistan befreien und begann daher im 15. August 1984 ihren Guerillakampf.

Seitdem wurde über Kurdistan der Ausnahmezustand verhängt. Spezialeinheiten der türkischen Polizei und Anhänger der Grauen Wölfe (Anhänger der faschistischen Nationalisten-Partei in der Türkei, MHP) wurden von der Regierung bewaffnet, um die kurdischen Autonomiebestrebungen zu bekämpfen. 1991 gab es ein Attentat auf den kurdischen Politiker Vedat Aydin. Seither werden kurdische Intellektuelle nicht mehr verhaftet, sondern ermordet. Die Täter werden nie gefaßt. 1993 war die PKK auf dem Höhepunkt ihrer Kräfte und rief die türkische Regierung zum Waffenstillstand auf. Um ein Einlenken der türkischen Regierung zu ermöglichen, erklärte sie einen einseitigen Waffenstillstand. Die PKK versuchte das Gleiche 1995 und 1998 noch zweimal, aber jedes Mal wurde dieser Aufruf ignoriert. Die Arroganz des türkischen Staates gegenüber jeglicher kurdischen Opposition tauchte hier noch einmal auf. Die türkischen Politiker zerschlagen jede Hoffnung auf einen Frieden.

Europa, Kurden, Solidarität, Lösung

Die kurdischen Aktionen gegen die Verschleppung von Öcalan waren im Grunde genommen ein nicht weitblickendes Fehlverhalten. Das Ergebnis ist: Millionen Mark von Schaden, vier ermordete Kurden, Hunderte Festnahmen, Abschiebungen... Die Reaktion der deutschen Machthaber bzw. Koalition darauf war ein rechtes und ebenfalls aggressives Vorgehen.

Am Ende hieß es noch einmal, die Probleme der Kurden seien nicht hier in Europa zu lösen, sondern in ihren Herkunftsländern. Das mag zum großen Teil richtig sein.

Aber was diese Herren nicht sehen ist: Es hat sich praktisch in der Vergangenheit herausgestellt, daß diese Herkunftsländer nicht in der Lage sind, ihre politischen Probleme ohne Gewalt zu lösen. Daß solche Gewaltlösungen auf Dauer kein Ausweg, sondern ein Grund für potentielle Konflikte sind, haben sie offensichtlich nicht verstanden.

Daß die westeuropäischen Länder durch Waffenlieferungen bzw. Verkauf an diese politisch unterentwickelten, gewaltbereiten Länder seit langem für die Unterdrückung und Ermordung des kurdischen Volkes mitverantwortlich sind, haben auch diese "sozialdemokratischen" Herrschaften nicht verstanden.

Trotz alledem werden diese ganzen Ereignisse, die durch die spontane und emotionale Wut der Kurden zustande kamen, der Sache der Kurden nicht dienlich sein. Vor allem müssen die Kurden sich von solchen gewalttätigen Aktionen distanzieren. Daß die Kurden, wie alle anderen Völker, nicht gewaltbereit oder Terroristen sind, müssen sie zeigen. Es mag sein, daß die Kurden vor 15 bis 16 Jahren außer Waffen keine andere Möglichkeit gesehen haben und deshalb die Waffen in die Hand genommen haben. Aber es sind jetzt andere Mittel vorhanden: Nämlich politische Mittel, und diese können noch stärker wirken als ein Kampf mit Waffen.

Die Kurden dürfen ihren sberlebenskampf nicht mehr radikalisieren. Aber nicht nur die Kurden, auch die Unterstützer der Kurden dürfen ihre Solidarität nicht mehr in ultralinken Grenzen einschränken. Wenn diese Solidarität tatsächlich Vorteile für die Kurden bringen soll, müssen die Freunde der Kurden ihre Öffentlichkeitsarbeit nicht nur in ihrem Freundes- oder Genossenkreis präsentieren. Keiner darf den kurdischen sberlebenskampf als "sozialistischen Befreiungskampf" an die Öffentlichkeit tragen.

Ich sage hier nicht, daß die Kurden sich von sogenannten "Autonomen" (was das auch immer bedeuten soll) total trennen sollen. Aber so geht es auch nicht weiter, daß die europäischen oppositionellen Linken infolge ihrer Prinzipen die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, den sozialdemokratischen Parteien, den Grünen, den Kirchenkreisen ablehnen und gegenüber Liberalen und Konservativen nur Parolen brüllen.

Egal ob die potentiellen oder tatsächlichen Wähler der rechten Parteien "ausländeröfeindlicher sind. Diese Menschen haben bis jetzt nur vom angeblichen "Terror der Kurden" gehört. Diese Menschen haben vom Terror des türkischen Staates, über die kurdische Bevölkerung nichts gehört. Diese Menschen haben von den Kurden, die gezwungen wurden, ihren eigenen Kot zu essen, nichts gehört. Sie haben nur von den Kurden etwas erfahren, die die Autobahnen blockiert haben.

Warum?

Warum haben immer wieder nur dieselben Menschen die kurdischen Meinungen erfahren, aber die rechts-, sozialdemokratisch- oder liberalorientierten Menschen nicht. Ich behaupte hier nicht, daß man diese ganz einfach erreichen und überzeugen kann. Aber das wurde weder von Kurden noch von deren Freunden ernsthaft versucht.

Herr Abdullah Öcalan wurde durch einen internationalen Komplott in die Türkei verschleppt. Schon in den ersten Bildern im Flugzeug haben wir gesehen, wie er erniedrigt wurde. Das haben viele Türken sich seit Jahren gewünscht. Aber eigentlich haben sie in seiner Persönlichkeit das ganze kurdische Volk erniedrigt. Die ganze Welt hat gesehen, wie er durch irgendwelche Drogen machtlos und niedergeschlagen vorgeführt wurde.

Die Kurden mußten ihre Reaktionen zeigen. Anders wäre es nicht denkbar. Aber nicht in dieser Art und Weise.

Die türkischen Medien haben tagelang ihren Haß gekotzt. Die Fernsehsender strahlten die Meinungen "des einfachen Bürgers" auf die Frage "was würdest du mit Öcalan machen, wenn man ihn in deine Hände geben würde?" Unmenschlichste Antworten wurden tagelang gezeigt. "Die Meinung" "der Türken". All dieses sind Vorbereitungen zu seinem Tode. Er wird sehr wahrscheinlich nach einer "fairen Gerichtsverhandlung" aufgehängt. Und die ganze "moderne" Welt wird diese "innere Angelegenheit der Türkei" stillschweigend ansehen. Außer den Kurden, die wahrscheinlich nicht wissen werden, wie sie ihre Wut ausdrücken sollen.

Hören Sie, Meine Damen und Herren, die Lösung ist wirklich nicht so kompliziert, wie es seit Jahren propagiert wird. Die Wurzeln des Konfliktes liegen tatsächlich tief in der Erde, aber sie sind dennoch lösbar.

Nach einem Waffenstillstand einschließlich einer generellen Begnadigung muß man, mindestens im türkischen Teil Kurdistans, den Kurden ermöglichen, ihr "Selbstbestimmungsrecht" zu benutzen.

Gott sei Dank haben trotz alledem die türkischen Machthaber die Türken und die Kurden nicht vollständig verfeinden können. Selbst nach so einer schwierigen Situation können die beiden Völker weiter zusammenleben. Auch innerhalb der Türkei. Und weil die türkischen Machthaber nicht in der Lage sind, diesen Konflikt mit friedlichen Mitteln zu lösen, müssen die europäischen Länder diesen Konflikt gegen deren und US-amerikanischen Willen zu einer politischen Lösung bringen. Sonst wird dieses Feuer alle verbrennen.

Mehmet Mustafa S÷ahin

 

 
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