Oldenburger STACHEL Ausgabe 10/99      Seite 14
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Psychiatrie ein Problem mangelnder Phantasie und Verständigung?

In der vorigen Ausgabe des STACHELs wurde etwas am Lack der Psychiatrie gekratzt. Auflösen konnten wir die Institution bis heute leider nicht. Menschen werden im Landeskrankenhaus tagweise ohne Essen gehalten, so war es zu lesen. Die Reaktionen waren unterschiedlichster Art. Einige Mitarbeiter gaben ihren Kommentar kurz und bündig, aber nicht offen: Alles Quatsch in dem Artikel. Die überwiegende Reaktion war jedoch äußerst positiv. Ein Mitarbeiter erklärte privat, die Nachfragen hätten derartigen Wirbel ausgelöst, daß es keine Station mehr gäbe, auf der das Thema nicht bekannt wäre, auch wenn das offiziell nicht zugegeben wird.

Es wurden neue Regelungen eingeführt, die für die Zukunft die kritisierte Essenslosigkeit vermeiden helfen sollen. Doch zwei Tage danach war bereits ein weiterer Patient einen ganzen Tag ohne Essen. Vom Besuch wurde hieraufhin ein Fax an die Pflegedienstleitung geschickt. Die folgende Reaktion von Mitarbeiter-Seite wurde von dem Insassen als Druck empfunden.

Gegessen wird, was auf den Tisch kommt

Schriftlich liegt nunmehr vor, daß im Landeskrankenhaus offiziell keine Fehler zugegeben werden. So wurde mein "Bekannter" nach Auffassung des Pflegedienstes nicht ohne Essen gehalten. Aus gesundheitlichen Gründen bekommt er fleischlose Kost. Sein von ihm bestelltes Essen war ausgeblieben. So hätte er - lax zusammengefaßt- die übriggebliebenen Fritten und die fetten Würste verschlingen dürfen, Essen eben, welches bereits auf der Station war.

"Leute, eßt mehr Schiet, Millionen Fliegen können nicht irren." Ist so zu verstehen, was ein verbrieftes Grundrecht auch für Insassen des Maßregelvollzugs ist: Ein menschenwürdiges Leben! Wie heißt die Konsequenz? In Zeiten der Sparerlasse ist neben Kaviar in den gehobenen Etagen ein Rückgriff auf die Erbseneintopftonne für einfache MitarbeiterInnen und InsassInnen denkbar - doch ich möchte lieber niemanden auf unerfreuliche Ideen bringen. Warum auf jedoch Station ausgerechnet Würstchen mit Phosphat aus dem Imbiß angeboten werden, bleibt offen. Das ist zwar ein begrüßenswertes Zeichen von Liberalität im menschlichen Umgang, doch ist bekannt, daß bei hyperaktiven Kindern das Weglassen von Phosphat wesentliche Verbesserung brachte. Es gibt Würstchen ohne Phosphat!

Einfaches klären wir sofort,

die wichtigeren Dinge haben wir ohnehin nicht zu entscheiden. Wenn die Besuchskommission für den Maßregelvollzug nach Anmeldung in der Einrichtung erscheint, muß sich niemand wundern, wenn Stationen nicht überbelegt wirken. Verhungert sieht nun niemand aus.

Die eigentlichen Probleme liegen tiefer und wiegen schwerer. So gibt es seit einiger Zeit neuere Medikamente, die sogenannten "atypischen" Neuroleptika. Diese haben weniger sichtbare Nebenwirkungen, mit kleineren Dosen sind die PatientInnen schneller "eingestellt". Doch sind diese Medikamente auch teurer. Da bei den Standard-Neuroeptika erhebliche Schäden zu befürchten sind, so "unheilbare Bewegungsstörungen, Leberschäden, Blutbildveränderungen" (Die bitteren Pillen 1995 zu allen (!) Neuroleptika), ist eine ÄrztIn in einem Konflikt. Verschreibt sie die neuen Mittel, wird sie der Krankenkasse gegenüber schadensersatzpflichtig - denn bei den zehnfach höheren Preisen ist das "Budget" schnell überschritten.

Nun haben die Krankenhäuser größere Freiheit in der Wahl der Mittel, doch da die PatientInnen die vorbeschriebene Situation spätestens bei der Entlassung erleben, wird auf die neuen Mittel gar nicht erst zurückgegriffen. Denn die PatientInnen würden erneut auf starke Mittel (um)eingestellt. So berichtete N3 in dem Beitrag "Wenn die Medizin zu teuer wird" im September `99. Werden die alten Mittel verschrieben, gibt es unheilbare Schäden und hoffentlich endlich Schadensersatzklagen - so äußerten sich Ärzte im LKH im persönlichen Gespräch, denen die Situation völlig klar ist.

Die Standard-Neuroleptika verschreibenden Weißkittel fühlen sich nur deshalb relativ sicher, weil sie kalkulieren, daß die geschädigten Menschen ohnehin nicht die Energie und die Kosten für Schadensersatzprozesse aufbringen. Doch nicht alle ÄrztInnen denken so - so hörte ich immer wieder den Wunsch, daß diese Sache hoffentlich bald auf die eine oder andere Weise geklärt wird. Im Zweifel jedoch zeigen fast alle "corporate identity" - niemand möchte sich als "NestbeschmutzerIn" hervortun.

Verantwortlich ist niemand

Obgleich die ÄrztInnenschaft im LKH gelegentlich bei "Unregelmäßigkeiten" so aufgeregt reagiert, weil sie behaupten, die Verantwortung zu haben, weisen sie diese weit von sich, wenn sie zu dieser herangezogen werden sollen. Bezogen auf die "atypischen" Neuroleptika: Die Krankenkasse will das so. Wenn mensch bei der Krankenkasse nachfragt, wird auf die Politik verwiesen. Ich möchte keine direkten Vergleiche ziehen, doch damals wollte auch niemand verantwortlich sein!

Im Zweifel für die Institution

Ohne zu moralisieren erklärte Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner bei seinem Vortrag in Cloppenburg, daß die Mitglieder der Institutionen eher für den Erhalt ihrer Institution (ihres Arbeitsplatzes) arbeiten, als daß sie die wirklichen Interessen der ihnen Anvertrauten förderten. So erklärt sich für mich auch, daß im Landeskrankenhaus mehr auf Medikamente als auf die Medizin des Wortes gesetzt wird.

Die Chemie ist vor allen Dingen auch ein Mittel für die MedizinerInnen. Menschen unter "Haldol" fühlen sich zwar selbst nicht mehr so gut, stören aber auch nicht. Dörner sieht den Moment kommen, wo er auch sich selbst für die Vergabe dieser Mittel kritisieren muß, wenn er derzeit noch Verständnis hierfür äußert. Auf die vorberichtete Kostenfrage angesprochen kommentierte er knapp: "Das ist ein Skandal." Er vermißt die Lobby für die chronisch Kranken. In spätestens zwanzig Jahren sieht er die Ärzteschaft für das jetzige Verhalten am Pranger. Doch was sind schon zwanzig Jahre ...

Ein Verbrechen aus der Sicht der Betroffenen

Die Ansichten über die Medikation gehen unter den Betroffenen weit auseinander. Während manche sagen, daß sie ohne diese Mittel nicht leben können und vor erneuten psychiotischen Schüben Angst haben, sind andere froh, von den Mitteln frei zu sein. Schmerz und Tränen kommen hoch über die geraubten Lebensjahre unter Betäubung und "Mitteln".

Vorrangig fehlt betreuende Begleitung für Menschen in psychiotischen Krisen. Denn es geht nicht darum, die "Mittel" zu verteufeln, es geht vor Allem darum, daß Alternativen möglich sein müssen. Wenn von den Weißkitteln nur eingestanden würde, daß es auch ohne "Mittel" gehen kann, wenn nur in der Krise gewählt werden könnte. So jedoch läuft es nach festem Schema. Sinngemäß sagte ein Betroffener: Wenn die Psychose nicht einfach als Verrückheit wahrgenommen würde, als Fremdes, Bedrohliches, sondern als eine weitere Möglichkeit des Lebens von vielen Weiteren, dann wäre schon viel gewonnen.

Wichtig ist auch, daß die Außenkontakte nicht abreißen bzw. aufgebaut werden. Deshalb ist müssen die Besuchsregelungen dringend verbessert werden. Wie sollen z.B. Berufstätige während der Woche bis 17 Uhr Besuchsdienst leisten können? Wer Familie hat, kommt sicher am liebsten Sa/So nachmittags, oder? "Natürlich" sind diese Zeiten betrieblich bedingt. Wichtig ist, daß der Besuch auf den Station willkommen ist und das auch spüren kann. Ohne den Wunsch zur Veränderung und ohne die Phantasie, wie die Aussehen könnte, wird das so bleiben.

Auflösen der Institution ist möglich.

Bei diesem Gedanken beginnt bei einigen das Gruseln. "Leb' doch mal täglich mit einem Psychiotiker Tür an Tür." Das ist sicher nicht einfach. Doch kann für mich nicht eine Lösung im Wegsperren liegen. Auflösung der Institution heißt aber auch nicht, daß es ein Loch geben soll. Auch werden die MitarbeiterInnen weiter gebraucht. Die Tätigkeit wird jedoch anders aussehen. Gegenwärtig wird in Oldenburg versucht, mit dem psychiatrischen Krisendienst Hilfen zu geben für akute Situationen. Das Ziel ist einerseits, eine Einweisung zu vermeiden und andererseits einer wirklichen Lösung der Krise näher zu kommen, mit der alle Beteiligten besser leben können.

Gerold Korbus

 

 
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