Oldenburger STACHEL Ausgabe 9/00      Seite 1
 
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AKW-Sicherheit per Beschluß

Über die moderne Geisterbeschwörung in der Politik

Der jüngst zwischen Regierung und den Energiekonzernen ausgehandelte Atomkonsens erinnert an den zynischen Vorschlag zur Lösung des weltweiten Hungerproblems: "Einfach mehr spachteln". Auf ähnliche Weise wird hier ein technisches Sicherheitsproblem beigelegt, indem man einfach beschließt, daß ein atomarer SuperGAU sich exakt 32 Jahre lang nicht wird ereignen können.

Wer sich davon in Sicherheit wiegen läßt, hat nicht verstanden, daß Atomenergie kein politisches oder wirtschaftliches, sondern ein naturwissenschaftliches Problem ist. Das heißt, es ist faktisch, es ist real. Wenn Politiker anerkennen, daß diese Technik "wegen ihrer großen Sicherheitsprobleme mit der Gefahr unübersehbarer Schäden... nicht zu verantworten ist" (Koalitionsvereinbarungen, FR 22.10.98), dann nehmen sie ihren Auftrag, Schaden von den BürgerInnen abzuwenden, ernst. Wenn sie aber andererseits dieselbe Technik für die Dauer von 32 Jahren für harmlos erklären, dann geraten sie in eklatanten Widerspruch, denn entweder ist etwas unverantwortbar und muß beseitigt oder beendet werden, oder es darf jahrzentelang weiterbestehen, dann ist es auch nicht unverantwortbar.

Ihr Verfassungseid verpflichtet diese "Realpolitiker" zu der Kenntnisnahme, daß die in ihrem eigenen Auftrag erstellte Studie zur Frage von Kernschmelzunfällen bei Reaktoren hiesigen Typs eindeutige Ergebnisse hervorbrachte. Seit 1989 steht es amtlich fest: Der SuperGAU ist Teil der Existenz von Atomkraftwerken. Im Versagensfall kann der Reaktordruckbehälter, das Kernstück der Anlage, wie eine Rakete nach oben beschleunigen und mit ihrer tödlichen Fracht alle Sicherheitsbarrieren durchschlagen. Evakuierungsmaßnahmen wären aussichtslos.

Der Bundesgerichtshof, der im Jahr 1978 zu einer gegenteiligen Ansicht gelangte, würde heute zu einem Verbot der Atomenergie kommen. Ja, er hatte dieses sogar implizit ausgesprochen, indem er seinen Spruch an die Dynamik der wissenschaftlichen Erkenntnis knüpfte. Sollte der "Stand der Wissenschaft" irgendwann zu dem Schluß kommen, daß Leichtwasserreaktoren hiesigen Typs ultimativ versagen können, so sei das Risiko unverantwortbar geworden und der Gesetzgeber zur Stillegung verpflichtet. Da aber die damalige Reaktorforschung einen Kernschmelzunfall mit Freisetzungen ausschloß, sah Karlsruhe keinen Grund zu einem Ausstiegsgesetz.

Nachdem dieser Grund mit der Studie "Phase B" von 1989 geliefert worden war, hätte der Gesetzgeber sofort mit einem Stillegungsgesetz reagieren müssen. Doch das System Kohl hatte bekanntlich seine besonderen Beharrungskräfte. Zwar wurde mit der Novellierung des Atomgesetzes 1994 eingestanden, daß es zu Ereignissen kommen kann, die einschneidende Katastrophenschutzmaßnahmen erforderlich machen, doch verlangte die Regierung nicht von den bestehenden, sondern nur von Neubau-Reaktoren, diese Ereignisse auszuschließen (§ 7 Abs. 2a AtG). Jedoch bezieht sich der wissenschaftliche Erkenntnisstand ja gerade auf die bestehenden Anlagen. Das heißt, die Atomgesetzgebung à la Kohlregierung ist widersprüchlich und juristisch angreifbar.

Hier liegt die Antwort auf die Frage, welche Alternativen zum "Atomkonsens" den Rotgrünen gegeben waren. Mit einer Anpassung der Atomgesetzgebung an den neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse hätten sie die Stillegung erzwingen können. Aber sie haben nicht einmal die Bevölkerung über diese Erkenntnisse aufgeklärt. Statt dessen ließen sie sich von der Industrie mit "Entschädigungsforderungen" bedrohen, eine Drohung, die juristisch ins Leere läuft, denn die Schutzpflichten gegenüber Leben und Gesundheit nach Artikel 2 rangieren klar vor dem Schutz des Eigentums nach Artikel 14 des Grundgesetzes. Natürlich hätte die Atomindustrie dagegen prozessiert, aber es muß den rotgrünen "Pragmatikern" vorgeworfen werden, daß sie nicht einmal den Versuch gemacht oder wenigstens das Drohpotential aufgebaut haben. Dabei wußten sie aus leidvoller Erfahrung, daß der Bund wirkungsvolle Instrumente der Atomaufsicht besitzt, denn die Hürden, die sie der Atomenergie früher auf Landesebeneen aufrichten wollten, waren von so mancher Weisung der alten Kohlregierung weggewischt worden. Mit dem "Atomkonsens" begibt sich die Bundesregierung ohne Not aller ihrer Eingriffsmöglichkeiten.

Die rotgrüne Bundesregierung macht einen ähnlichen Fehler wie die Regierungen zur Zeit der Bauzaun-Kämpfe in den 70er Jahren. Damals wurde die Befürchtung der Atom-Opposition, daß verheerende Unfälle drohen, barsch zurückgewiesen oder lächerlich gemacht. Nun, da die Opposition Recht behalten hat, will Rotgrün von diesem Punkt ablenken. Es ist aber der springende Punkt der ganzen Debatte, denn wenn die Katastrophe wirklich geschieht, erübrigen sich sämtliche Debatten. Die Gründe, gegen Atomenergie zu opponieren, sind durch den Stand der Wissenschaft aktueller denn je. Der "Atomkonsens" hat keinen "unumkehrbaren" Ausstieg eingeleitet, wie die Bundesregierung behauptet. Unumkehrbar sind nur die Folgen eines SuperGAU, ebenso, wie es Plutonium und Atommüll sind, die von den Atomkraftwerken laufend vermehrt werden. Gegenüber diesen Tatsachen ist die Atompolitik von Rotgrün ein Ausflug in die virtuelle Realität.

Ingo Harms

 

 
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