Oldenburger STACHEL Ausgabe 6/01      Seite 7
 
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Von Asyl und Menschlichkeit

Rede der chilenischen Niederländerin Gladys Mejas am 5. Mai 2001 in der KZ-Gedenkstätte Esterwegen, anläßlich des Jahrestages der Befreiung vom Nationalsozialismus.

Ich konnne aus einem Land, in dem Armut und Unrecht keine Ausnahmen sind.

Mein Großvater hat 40 Jahre für einen Bauern auf dem Lande gearbeitet. Er stand um fünf Uhr morgens auf, um bis zehn Uhr abends zu arbeiten. Meine Oma mußte ihm sein Essen bringen, weil ihm keine Pause gestattet wurde. Ihre Kinder mußten ab dem sechsten Lebensjahr den Vater bei der Arbeit unterstützen. An seinem Todestag kam der Sohn des Bauern vorbei und erzählte meiner Großmutter, sie solle umziehen, er brauchte das Häuschen für die nächste Landarbeiterfamilie.

Als Allende Präsident von Chile wurde, schienen meine so lange gehegten Hoffnungen sich zu verwirklichen. Zum ersten Mal hatte meine Klasse, die der Armen, etwas zu sagen. Es gab gratis medizinische Versorgung, die Schulpflicht wurde eingeführt, jeder Chilene hatte ein Recht auf eine Wohnung. Bis Pinochet kam.

Sie wissen, wie es weiter ging in meinem Lande: Tausende von Toten, Tausende Verschollene und eine Million Chilenen verstreut über die ganze Welt. Alles Menschen wie meine Kinder und ich. Der Vater meiner Kinder ist seit 1973 verschollen, obwohl er nicht politisch aktiv gewesen war. Ich selbst war ein Jahr inhaftiert. Ich habe am eigenen Körper erfahren, was die Foltermethoden der Nazis beinhalteten. Aber ich habe das alles überlebt.

Eingeladen oder Abgewiesen

Nach ein paar Jahren hat es mich in die Niederlande verschlagen. 'Auf Einladung der Königin': So lautet jetzt mein Status. Die Niederlande waren gut zu mir und sind es noch immer. Das Land hat mich eingeladen, mich dort niederzulassen, und es hat eine wärmende Decke über mich und meine Kinder gebreitet.

Mein Glück war, in einem goldenen Zeitalter in die Niederlande zu kommen, dem Zeitalter des guten alten Premierministers Den Uyl. Der Empfang war damals sehr viel menschlicher als jetzt. Wir durften wählen, wo wir wohnen mochten, während jetzt Flüchtlinge in überfüllten Auffangstellen über Jahre hinweg aufgehoben und vergessen werden. Aber sogar das ist noch besser als das, was sie ab dem 1. April erwartet. Asylbewerber am Ende des Rechtsweges dürfen eine einzige Berufung einlegen, den darauf folgenden Entscheid aber nicht in einer der Auffangstellen abwarten. Man muß die Stelle verlassen, was auch immer die Folgen sind. Dies gilt für Frauen, Kinder, Männer, für Einzelpersonen und Familien. Unterschiede tun nichts zur Sache. Das macht die Betroffenen zu Landstreichern, die selbst für Essen und eine Unterkunft sorgen müssen. Sie dürfen aber nicht arbeiten, sie dürfen gar nichts.

Damals, in meiner Zeit, durften wir uns eine Weile vom Elend, das hinter uns lag, erholen, aber danach wurden wir angeregt, an die Arbeit zu gehen, ein Studium aufzunehmen. Wir durften auch Fehler machen, ohne gleich endgültig als Versager dazustehen.

Wann ist ein Land voll?

Meinen heutigen Schicksalsgefährten fehlt dies alles. Sie müssen, mit allem Elend, das sie hinter sich haben, noch eine Folter bestehen. Sie müssen jahrelang in der zutiefst unmenschlichen Ungewißheit leben, ob sie bleiben dürfen. Und manchmal entscheidet das über Leben und Tod. Man glaubt ihre Geschichte nicht. Die Worte von Frauen und Männern, die die schrecklichsten Erniedrigungen über sich ergehen lassen mußten, werden angezweifelt. Herren in Anzügen und Damen in Kostümen beschließen über das Schicksal des Asylbewerbers. Hinter ihren Schreibtischen entscheiden sie, eine Region wie Nordirak sei sicher. Und was Menschenrechtler auch sagen, die Ausgestoßenen sollen doch zurück, ihrem Tod entgegen. Neuntausend sind es in den Niederlanden. Schon tagelang sind Menschen aus dem Nordirak im Hungerstreik, und ich habe schreckliche Angst, daß sie dadurch vor Hunger oder Durst umkommen werden, weil ihnen das lieber ist als im Irak zu Tode gefoltert zu werden. Auch ich hätte mich damals für einen solchen Tod entschieden, anstatt mich von Pinochet ermorden zu lassen. Ich schäme mich jedoch, daß Menschen in den kultivierten Niederlanden, in einem kultivierten Europa, auf derart barbarische und respektlose Art sterben müssen.

Inzwischen dauern Kriege in Afrika, Asien oder anderswo auf der Welt einfach an. Ab und zu eine Spendenaktion im Fernsehen, das geht noch, aber die Opfer bei sich aufnehmen, das steht auf einem anderen Blatt. Das machen nicht nur die Niederlande, sondern auch die anderen europäischen Länder lieber nicht. "Bei uns ist voll", lautet die Devise. Wann ist ein Land voll? Oder ist ein Land vielleicht nur voll in Bezug auf jene, die am meisten der Solidarität und Zuwendung bedürfen? Wie stellt sich das für Amerikaner da, die in den Niederlanden wohnen möchten? Wie geht es Engländern oder Skandinaviern? Ist für sie auch kein Platz mehr?

Luxusprobleme

Zurück zu meiner Geschichte. Ich fühle mich als Niederländerin, ich bin für die holländische Fußballelf, wenn sie gegen die Deutschen antritt. Ich spreche gut niederländisch, träume niederländisch. Ich darf hier eine Meinung haben, und die äußere ich auch. Ich habe einen Sitz in dem Gemeinderat einer der schönsten Städte in den Niederlanden: Groningen. Ich bin stolz auf unseren Martiniturm, ich vermisse die Stadt, wenn ich zu lange in Chile weile. Trotzdem bleibe ich eine Fremde und vermisse Chile schrecklich. Zurück kann ich wohl kaum, denn was mache ich mit meinen beiden in den Niederlanden aufgewachsenen Kindern? Auch sie haben sich hier eine Existenz aufgebaut. Sie würden niemals mitgehen nach Chile, und ich kann nicht ohne sie. Aber ich kann auch nicht ohne mein zweites Mutterland leben. Ich fühle mich geistig zerrissen.

Alles Luxusprobleme, werden Sie denken, und Sie haben recht, wenn ich mich mit den Asylbewerbern vergleiche, die in diesem Moment jene wärmende Decke entbehren müssen, die mir vor 25 Jahren so wohlgetan hat.

(gekürzt v. d. Red.)

 

 
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