Oldenburger STACHEL Ausgabe 10/01      Seite 15
 
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Bhopal - Die Vergangheit ist noch nicht vergangen...

Im April 2000 bereiste ich Indien, und traf mich dort mit zahlreichen Friedens-, Menschenrechts-, Frauen-, Schwulen/Lesben- und Umweltgruppen. Meine Reise führte mich von Calcutta über Cuttak, Cochin, Bangalore, Hyderabad, Nagpur nach Bhopal, und von dort weiter über Delhi, Baroda, Vedcchi und Rajpipla nach Bombay.

Bhopal - war da nicht was? Irgendwo hat mensch den Namen dieser Stadt in Indien doch schonmal gehört, an irgendwas erinnert er. Doch heute scheint diese Stadt auf den ersten Blick eine ganz normale Stadt. Die Spuren der Vergangenheit finden sich erst bei genauerem Hinsehen.

2. Dezember 1984

Am 2. Dezember 1984, während einer Routineoperation, kam es in einem Tank der Union-Carbide-Fabrik in Bhopal zu einer kleinen Panne. Diese führte dazu, daß innerhalb kurzer Zeit 40 Tonnen Methyl-Isocyanat (MIC) freigesetzt wurden und sich über die Stadt ausbreiteten.

In der Nacht des 2. Dezember 1984 wachten in Bhopal zahlreiche Menschen mit brennenden Augen und brennendem Hals auf, umgeben von einer dichten Wolke giftigen Gases, durch die sie kaum sehen konnten. Hundertausende rannten um ihr Leben, und während sie nach Luft schnappten, machten sich die Wirkungen des giftigen Gases nur um so bemerkbarer. Das Gas verbrannte das Augen- und Lungengewebe, und griff das Nervensystem an. Die Menschen verloren die Kontrolle über ihren Körper. Urin und Kot rannen ihnen die Beine herunter. Einige begannen sich unkontrollierbar zu übergeben. Andere wurden von Anfällen geschüttelt und starben. Das Gas führte zu einer Irritation der Lungen, so daß diese so viel Flüssigkeit produzierten, daß sie die Menschen an ihrer eigenen Körperflüssigkeit ertränkten.

Viele Opfer wären vermeidbar gewesen. Die Alarmsirene wurde von Union Carbide abgeschaltet, die Menschen wurden nicht gewarnt und wachten erst auf, als die Gaswolke sie erreicht hatte. Der Fabrikmanager von Union Carbide wurde um 1.30 Uhr nachts geweckt, doch erst um 3.00 Uhr wurde die Polizei informiert, mit der Mitteilung, daß das Leck geschlossen wäre - tatsächlich war schlicht alles Gas ausgetreten.

Noch während die Ärzte in den städtischen Krankenhäusern sich ratlos um die Opfer bemühten, die hilfesuchend hustend und nach Luft ringend zu ihnen kamen, übte sich der Arzt von Union Carbide in Verharmlosung. MIC sei lediglich wie Tränengas und relativ harmlos, Spülung mit Wasser würde die Beschwerden lindern - eine dreiste Lüge, und in den Krankenhäusern starben die Menschen wie die Fliegen.

Offizielle Schätzungen liegen bei 1.600 Toten durch den Gasunfall. Die wirkliche Zahl der Opfer wird nie bekannt werden, denn zahlreiche Familien aus den Slums - ohne jede Adresse und offizielle Anmeldung - wurden schlicht ausgelöscht. In den Tagen nach der Katastrophe wurden von religiösen Organisationen über 6.000 Leichentücher verteilt; viele Opfer wurden so, wie sie gefunden wurden, begraben oder verbrannt.

Die Zahl der von Gasvergiftungen betroffen lag insgesamt bei über 500.000 Menschen - etwa die Hälfte der EinwohnerInnen Bhopals. Viele der Überlebenden starben einen langsamen und qualvollen Tod in den Monaten und Jahren nach der Katastrophe. Noch heute sterben jeden Monat 10-15 Menschen an den Folgen der Gasvergiftung. Die Gesamtzahl der Todesopfer liegt bis heute bei weit über 16.000.

Union Carbide stiehlt sich aus der Verantwortung

Nach der Katastrophe begann ein weiteres Trauerspiel um die Übernahme von Verantwortung, bei dem Union Carbide und die indische Regierung in geteilten Rollen die Opfer über den Tisch zogen. Zunächst erklärte sich die indische Regierung per Gesetz zur Vertreterin der Opfer gegenüber Union Carbide. In dieser Funktion reichte sie Klage vor einem US-Gericht ein, und forderte eine Entschädigung von 3 Milliarden US$. Doch im Mai 86 wurde diese Klage an die indischen Gerichte überwiesen. Im Februar 1989 kam es dann zu einer überraschenden Vereinbarung zwischen den indischen Regierung und Union Carbide: gegen die Zahlung einer Entschädigung von 470 Millionen US$ würden alle Strafverfahren und weitere anhängige Zivilverfahren eingestellt. Union Carbide ist somit von jeglicher weiterer Verantwortung - auch für noch auf dem Fabrikgelände verbliebene Altlasten - entbunden. Die Entschädigung pro Kopf betrug daher gerade einmal 25.000 Rupien (1.250 DM), wovon 10.000 Rupien mit "Sofort"Hilfe der Regierung von vor 1990 verrechnet wurden, und die meisten Opfer zusätzlich noch 5.000 Rupien an AnwältInnen und Schmiergeldern zu zahlen hatten, um überhaupt in den "Genuß" dieser Entschädigung zu kommen. Die verbleibenden 10.000 Rupien reichten nicht einmal annähernd für die Kosten für die Medikamente, die die Opfer in den vergangenen Jahren bereits aufbringen mußten - von zukünftigen Ausgaben ganz zu schweigen...

Zusammen mit Sadhna Karnik, Organisatorin der Opfer in den am stärksten betroffenen Gebieten, besuchte ich eine Familie. Bis heute sind alle Familienmitglieder krank, auch die nach der Katastrophe geborenen Kinder. Die Leber ist hart wie Stein, zu ausdauernder körperlicher Arbeit ist niemand in der Lage. Da die kurz nach der Katastrophe von der Stadtverwaltung eingerichteten Erwerbsprogramme mittlerweile wieder geschlossen wurden, können die Menschen froh sein, wenn sie für ein paar Tage in der Woche Arbeit finden. Oft ist nicht genug Geld da, um sich abends satt zu essen...

Die Opfer wollen sich mit der Entschädigung nicht zufrieden geben. Immer wieder organisieren sie sich, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen, um eine Verbesserung ihrer Lage einzufordern. Die Weltöffentlichkeit hat sie dabei schon lange im Stich gelassen und vergessen... oder?

Und heute?

Bhopal war vor mehr als 15 Jahren, und die Folgen sind bis heute spürbar. Lehren wurden aus Bhopal aber scheinbar nicht gezogen, und das gilt nicht nur für Indien.

Die Fabrik von Union Carbide in Bhopal ist stillgelegt, das Gelände birgt weiterhin zahlreiche Altlasten. In anderen Teilen Indiens werden von einheimischen und multinationalen Konzernen jedoch Chemiefabriken unter Bedingungen betrieben, die sich nicht wesentlich von denen in Bhopal 1984 unterscheiden.

Gujarat im Westen Indiens ist ädieü Chemieregion des Landes. Hier reiht sich Fabrik an Fabrik, und ähnlich wie in Bhopal wohnen die Arbeiter und ihre Familien in ärmlichen Hütten direkt vor den Fabriktoren, inmitten von Sondermüll und giftigem Abwasser. Bhopal findet hier täglich und schleichend statt, das Grundwasser ist vergiftet, der Boden, auf dem zusätzlich Subsistenzlandwirtschaft betrieben wird ist ebenfalls voll von Chemie. Und wer als Folge der schleichenden chemischen Vergiftungen nicht mehr arbeiten kann, der wird halt entlassen - vor den Toren warten genug Andere, die sich weiterhin in die Fabriken quälen wollen.

Indien ist weit weg, doch die Arbeiter in den Chemiefabriken produzieren nicht nur Produkte, die vielleicht auch hier verkauft werden (oder die Giftdusche für die äcash-cropsü für dne Export), sondern sie erwirtschaften auf Kosten des eigenen Lebens auch die Gewinne der multinationalen Konzerne, die ihnen im Zeitalter der Globalisierung erst ihre globale Wirtschaftsmacht verleihen. Und nicht anders als hierzulande ist es auch in Indien der Staat, der den Rahmen für die Globalisierung setzt, und die Organisierung der ArbeiterInnen behindert - lediglich das "Wohlstandsniveau" unterscheidet sich erheblich.

Andreas Speck

(Ein Artikel zu Schwulen und Lesben in Indien findet sich übrigens in der Juni/Juli-2000-Ausgabe der Rosigen Zeiten. Der Besuch in Indien war Teil des WRI-Projektes zu äGewaltfreiheit und gesellschaftlichem Empowermentü. Mehr Informationen dazu sind erhältlich bei: WRI-Projekt Gewaltfreiheit und gesellschaftliches Empowerment, c/o Patchwork, Kaiserstraße 24, 26122 Oldenburg, Tel.: 0441-2480437, Fax: 2489661. Spendenkonto: Förderverein War Resisters International e.V., Konto-Nr. 11787613, Kasseler Sparkasse (BLZ 520 503 53))

 

 
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