Ausgabe 11/01 | Seite 5 | |||||
Der 11. September wiederholt sich
oder: Warum wir neue Ideen statt neuer Waffen brauchen"Das Schweigen zu einer Untat, die man weiß, ist die allgemeinste Art unserer Mitschuld." (Max Frisch, Briefe) "Im Grunde ist die Kriegserklärung privatisiert worden", sagt Bundeskanzler Schröder in einem aktuellen Zeit-Interview zum Thema Krieg mit Afghanistan und fügt hinzu, das der augenblickliche Konflikt zudem "... internationalisiert ..." wurde. Moment einmal: Diese Begriffe kennen wir doch! Im Zusammenhang mit dem meistbenutzten und mißbrauchtem Schlagwort unserer Zeit: Globalisierung. Ist da nicht auch die Rede vom Zwang zur Privatisierung? Ist da nicht die Rede von der Internationalisierung der Wirtschaft? Der Kanzler benutzt hier die gleiche Terminologie, die wir von ihm kennen, wenn er von den "Sachzwängen" angesichts einer globalisierten (Wirtschafts-)Welt spricht und Sozialabbau meint. Diese Wortwahl des Kanzlers zeigt deutlich, daß die Wirtschaft wirklich alle Lebensbereiche erobert. Die Verknüpfung der Terroranschläge in den USA mit dem Drohwort Globalisierung macht besonders Sinn, wenn man bedenkt, wo das sogenannte "neoliberale Wirtschaftsmodell" - der Kern von Globalisierung - seinen Anfang nahm. Es war auch ein 11. September, der 11. September 1973, als in Chile - dem "stillen Vietnam", wie es Pablo Neruda nannte - der demokratisch gewählte Präsident, Dr. Salvador Allende, gestürzt wurde und durch eine durch die USA unterstützte Militärjunta ersetzt wurde. Diese etablierte ein Wirtschaftsmodell US-amerikanischer Ökonomen aus Chicago: Chile wurde das erste Experimentierfeld für das neoliberale Wirtschaftmodell. Exakt 28 Jahre später bringen Terroristen das World Trade Center, ein Symbol westlicher Handelsmacht und Dominanz, zum Einsturz. Wenn nun diese Attentate (anscheinend) islamistischer Fundamentalisten vom 11. September 2001 mit den von Wirtschaftsinteressen geleiteten Ereignissen vom 11. September 1973 miteinander in Beziehung gesetzt werden, scheint das zunächst fragwürdig. Einen logischen Zusammenhang ergibt diese Verknüpfung erst, wenn die Ereignisse aus der Sicht der Systemtheorie betrachtet werden. Die besagt nämlich: Ein System, das die in seinem Feld zum Ausgleich strebenden Kräfte unterdrückt, erzeugt Spannungen, Kampf oder sogar Sabotage und Terrorismus. Will die Mehrheit dieses Systems die unterdrückte Minderheit sogar vernichten, ist sie systemtheoretisch zum Scheitern verurteilt. Das zum Ausgleich strebende Feld gibt die ungelösten Aufgaben oder unterdrückten Probleme an andere Teile des Systems weiter. Diese übernehmen - bewußt oder auch unbewußt - die unterdrückten Aufgaben. Eine Mißachtung und Unterdrückung von Minderheiten wird sich, systemtheoretisch gesprochen, früher oder später buchstäblich rächen, denn jedes soziale Feld strebt zu einem Ausgleich seiner Kräfte: zur Balance. Mehrheiten, die mit Weitblick agieren, würden daher Minderheiten nicht ignorieren oder unterdrücken. (Nebenbei: Ein solche Utopie wird "Tiefendemokratie"! genannt.) Die Konfliktforschung bestätigt diese Theorie: Werden Konflikte unterdrückt, dann kehren sie - oft auf anderer Ebene und in veränderter Form - solange wieder, bis ein Ausgleich zwischen den Konfliktpartnern unausweichlich wird. Einseitig "gelöste" Konflikte, d.h. wenn eine Seite "siegt", führt zum sogenannten "Rachezyklus". Ein Terrorismus-Experte sagte diese Tage: "Das Netzwerk des Terrors ist nicht abhängig von einzelnen Personen wie bin Laden, sondern von einer "Geisteshaltung", die ihre Ideen weitergibt." Hier wird wieder bestätigt, daß die Betrachtung isolierter Prozesse (z.B. Taliban absetzen, bin Laden liquidieren = alles wieder gut) keine Lösung bringen kann. Wir brauchen neue Ideen und keine neuen Waffen! Wenn Politikerinnen und Politiker davon reden, daß die Terroranschläge vom 11. September Angriffe auf die "freie Welt", auf die "Menschlichkeit", auf die "Zivilisation" sind, dann lenken sie damit auch von der Frage ab, ob die unfaßbaren Anschläge nicht einfach die Konsequenz ihrer eigenen Wirtschafts- und Außenpolitik sind. Die gleichen Politiker demonstrieren diese Tage, daß sie militärische Gewalt leider über Selbstreflexion und Dialog stellen. Bomben und Raketen auf Zentralasien sind für den "Westen" scheinbar weniger schmerzhaft - weil weit entfernt -, als im Vergleich zu der weitaus schmerzhafteren Einsicht - weil so nah -, daß eine Minderheiten ignorierende und unterdrückende Wirtschafts- und Außenpolitik sich früher oder später "rächt" - besonders wenn die "Minderheiten" die Mehrzahl der Menschheit ausmacht. Deshalb darf der 11.September 2001 nicht auch noch eine enttabuisierung militärischer Einsätze für die BR Deutschland einleiten! Krieg schafft keinen Frieden. Das "uneingeschränkte Zusammenhalten", das "Eintreten füreinander", die "gegenseitige Unterstützung" - also jene Handlungsabsichten, die ein Lexikon als Solidarität beschreibt, fordert diese Tage gebetsartig wiederholend der "Freund der Bosse", Kanzler Schröder und meint damit nicht Solidarität mit den Millionen von Arbeitslosen, sondern die militärische Unterstützung der US-Streitkräfte. Wir brauchen aber eine zivile und keine militärische Solidarität - eine Solidarität mit allen Opfer! Es gibt Opfer des 11. September 2001, die trotz ihrer furchtbaren Erfahrungen, bewundernswerte Weitsicht zeigen. Bei einem Fernsehinterview in New York sagte eine Frau, die ihren Mann bei den Anschlägen verloren hat: "Ich weiß, daß er daran glaubte, ein Gespräch sei fruchtbarer als Gewalt. Wir sollten versuchen, eine Wiederholung dieses Verbrechens zu verhindern, indem wir mit denen, die uns hassen, zu einem gemeinsamen Verständnis kommen." Thomas Betten
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