Oldenburger STACHEL Ausgabe 2/02      Seite 3
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Astrid Lindgren - Ein Nachruf

Ich möchte etwas schreiben über Astrid Lindgren. Sie war wohl die bekannteste Kinderbuchautorin der Welt. Mir bedeutet sie sehr viel.

Sie war ein Ansporn für mich, wenn wir in der Grundschule Aufsätze geschrieben haben. Als Kind habe ich sie bewundert und verehrt. Und auch heute noch bin ich überzeugt, daß sie weise und gut war wie sonst nur wenige Menschen.

In ihren Geschichten hat man das Gefühl, daß die Welt gut und sicher ist, oder doch daß es immer eine Hoffnung und einen Grund zum Freuen gibt und daß das Leben spannend und schön ist. Und sie hat so viele und so unterschiedliche Geschichten erschaffen. Ich denke an Madita, Michel, Pippi Langstrumpf, Kalle Blomquist, Goldi, Polly hilft der Großmutter, Mio mein Mio, Ronja Räubertochter, Nils Karlsson Däumling, Karlsson vom Dach, Die Kinder aus der Krachmacherstraße, Pelle zieht aus, Die Brüder Löwenherz, Rasmus und der Landstreicher, Peter und Petra, Ferien auf Saltkrokan, Das entschwundene Land und wie sie alle heißen. Bei den meisten dieser Geschichten habe ich die Bilder aus den Filmen vor Augen oder auch die Hörspielkassetten im Ohr. Die Filme sind für mich sehr eng mit Astrid Lindgrens Erzählungen verbunden. Aber auch das Vorlesen. Meine Mutter hat uns früher, als wir klein waren, immer Bücher vorgelesen, darunter auch viele von Astrid Lindgren. Das war schön, abends durchgefroren nach dem Spielen nach Hause zu kommen und dann beim Abendbrot oder in der Badewanne etwas vorgelesen zu bekommen. Ich erinnere mich daran, daß unsere Klassenlehrerin in der Grundschule uns "Die Brüder Löwenherz" vorgelesen hat, kurz nachdem ich es auch zu Hause schon vorgelesen bekommen hatte. So wußte ich schon, daß Jossi der Verräter im Kirschtal ist. Oh, und ich erinnere mich, daß ich in der Grundschule Pippi-Langstrumpf-Bilder in Serie gemalt und verschenkt habe. Ja, Pippi Langstrumpf hat mich zur Kreativität angeregt, sie war wohl mein erstes "Idol". Ich habe sie gemalt und gezeichnet, modelliert, genäht und gewebt...

Astrid Lindgren hat sich auch für bessere Tierschutzgesetze und für den Landschaftsschutz eingesetzt, sie schloß sich der schwedischen Anti-Kernkraft-Welle an, und sie hat mit einem Märchen über den Steuerwahnsinn in Schweden einen Regierungswechsel bewirkt. Wenn sie ihre Stimme erhob, wurde sie gehört und vor allem geachtet. Am uneingeschränktesten aber hat sie sich immer wieder für Kinder eingesetzt, weil sie sah, daß die Welt ganz und gar nicht so sei, wie sie sein sollte, und weil sie "eine Welt nicht ertrage, in der nicht zumindest die Kinder glücklich sein dürfen."

Ihre Bücher sind voller Weisheit und Wahrheit und doch so einfach geschrieben. So, wie Erzählungen sein sollten, so spannend und klug erzählt und ohne Sentimentalität. Jonathan Löwenherz erklärt seinem kleinen Bruder Karl (oder Krümel), daß es Dinge gibt, die man tun muß, selbst wenn sie gefährlich sind. "Weil man sonst kein Mensch ist, sondern nur ein Häuflein Dreck." Er muß ins Heckenrosental und sich in Gefahren begeben, von denen Krümel nichts weiß.

... "Du weißt doch noch, was ich damals gesagt habe", begann er. "Daß nämlich das Leben hier im Kirschtal leicht und einfach ist. So ist es gewesen, und so könnte es noch immer sein, aber so ist es kaum mehr. Denn wenn das Leben drüben in dem anderen Tal schwer und bedrückend wird, dann wird es auch hier im Kirschtal schwer, verstehst du?" ...

In dem Buch "Die Brüder Löwenherz", das 1973 als deutsche Ausgabe erschien, geht es um Angst und Mut, und um den Tod. Und Karl überwindet schließlich seine Angst und folgt seinem Bruder ins Heckenrosental. Die Figuren in Astrid Lindgrens Büchern fühlen so wie wirkliche Kinder (auch wenn sie so unglaubliche Kräfte haben wie Pippi Langstrumpf), da ist nichts Verniedlichendes, Überzogenes, und kein Zuzwinkern zu den Erwachsenen, während sie zu den Kindern spricht. Astrid Lindgren nimmt Kinder ernst, und sie schreibt in erster Linie für sie. Aus den Kritiken der Erwachsenen hat sie sich nie viel gemacht. Man kann die Gefühle der Figuren in ihren Büchern regelrecht mitempfinden, ihre Freude und Liebe und Angst. So wie Krümel, als er im Kirschtal ankommt, in Nangijala, dem Land, in das man nach dem Tod gelangt, wo noch die Zeit der Lagerfeuer und Sagen ist:

... Ich lief los. Den schmalen Pfad zum Fluß. Ich lief und lief - und dort unten auf der Brücke saß Jonathan. Mein Bruder, er saß dort, sein Haar leuchtete im Sonnenschein, und auch wenn ich es hier zu erzählen versuchte, so läßt sich doch nicht beschreiben, welch ein Gefühl es war, ihn wiederzusehen. Er hörte mich nicht kommen. Ich versuchte "Jonathan" zu rufen, weinte aber wohl, denn ich brachte nur einen leisen, komischen Laut hervor. Jonathan hörte mich trotzdem. Er blickte hoch. Zunächst schien es, als erkenne er mich nicht wieder. Doch dann schrie er auf, warf die Angel ins Gras, stürzte auf mich zu und packte mich, als wolle er sich vergewissern, daß ich wirklich gekommen war. Und da weinte ich nur noch ein bißchen. Warum sollte ich eigentlich weinen, aber ich hatte mich so sehr nach ihm gesehnt. Doch Jonathan lachte, und wir standen dort auf der Uferböschung und hielten uns umschlungen und freuten uns darüber, daß wir wieder zusammen waren, mehr, als sich sagen läßt ...

... Und erst jetzt fühlte ich es. Erst auf der Brücke spürte ich, daß ich durch und durch gesund und froh war, und wozu brauchte ich dann auch noch schön zu sein? Mein ganzer Körper war ohnehin so glücklich, daß es darin irgendwie lachte. Wir lagen dort eine Weile und ließen uns von der Sonne wärmen und sahen den Fischen zu, die unter der Brücke hin und her schwammen ...

Krümel muß auch Ängste ausstehen, zum Beispiel als er allein durch einen unterirdischen Gang aus dem Heckenrosental fliehen muß und nicht weiß, ob ihn am Ausgang sein Bruder oder ein Tengilmann erwartet:

... Und dann war ich allein unter der Erde. Ich kroch durch den langen, finsteren Gang, und die ganze Zeit über sprach ich mit mir selber, um mich zu beruhigen und keine Angst zu bekommen. "Nein, es macht nichts, daß es stockfinter ist ... Nein, du erstickst ganz bestimmt nicht ... Ja, ein wenig Erde rieselt dir in den Nacken, aber das bedeutet nicht, daß der ganze Gang einstürzt, du Dummkopf! Nein, nein, Dodik kann dich nicht sehen, wenn du rauskriechst, er ist ja schließlich keine Katze, die im Dunkeln sieht. Aber gewiß, Jonathan ist ganz sicher da und wartet auf dich, ja, das tut er, du hörst doch, was ich sage. Er ist da. Er ist da!" ... (Astrid Lindgren: Die Brüder Löwenherz. Hamburg: Verlag Friedrich Oetinger, 1973)

Astrid Lindgren hat einmal in einem Interview gesagt, als es darum ging, daß "Mio mein Mio" allzu viel Schrecken und Gewalt enthält, als daß man es wohlbehüteten Kindern präsentieren könnte: "Arme Kinder! Ich finde, daß ihre Geschichten regelrecht erstickt sind unter Eichhörnchen, die reden, aber nichts von sich geben können, was den Leser schaudern, lachen oder weinen läßt! Das Lesen sollte Kindern nicht nur Vergnügen bereiten, sondern es sollte sie ganz allgemein in Erregung versetzen. Denn sie brauchen Aufregung, und wenn sie weder übersensibel noch krank sind, verstört sie eine solche Lektüre auch nicht, sondern läßt sie friedlich und ohne Alpträume schlafen." (Sybil Gräfin Schönfeld: Astrid Lindgren. rowohlts monographien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag, 1987. S. 93 f.)

Astrid Lindgren ist am 28. Januar in Stockholm gestorben, im Alter von 94 Jahren. Schon 1992 hatte sie angekündigt, daß sie keine neuen Bücher mehr schreiben, sondern nur noch auf Briefe antworten wolle.

Astrid Lindgren hat nicht nur Geschichten für Kinder geschrieben. Hier ist ein Gedicht von ihr:

Wäre ich Gott

Wäre ich Gott,

dann würde ich weinen

über die Menschen,

sie, die ich geschaffen

zu meinem Ebenbild.

Wie ich weinen würde

über ihre Bosheit

und Gemeinheit

und Rohheit

und Dummheit

und ihre armselige Güte

und hilflose Verzweiflung

und Trauer.

Und wie ich weinen würde

über ihre Herzensangst

und ihren ewigen Hunger,

ihre Sorge

und Todesfurcht

und trostlose Einsamkeit

und über ihre Schicksale,

ihre erbärmlichen kleinen Schicksale

und ihr blindes Tasten

nach jemand ...

irgendeinem!

Vielleicht nach mir!

Und wie ich weinen würde

über alle Todesschreie

und alles Blut, das so

vergeblich fließt,

so zutiefst vergeblich,

und über den Hunger

und die Hoffnungslosigkeit

und die Not

und alle wahnsinnigen Qualen

und einsamen Tode

und über die Gefolterten,

die schreien und schreien,

und über die Folterer

noch mehr.

Und dann all die Kinder,

alle, alle Kinder,

über sie würde ich

am allermeisten weinen.

Ja, wäre ich Gott,

gewiß würde ich viel

über die Kinder weinen,

denn nie habe ich mir gedacht,

daß sie es so wie jetzt

haben sollten.

Ströme, Ströme

würde ich weinen, damit

sie ertrinken könnten

in den gewaltigen Fluten

meiner Tränen,

alle meinen armen Menschen,

und endlich Ruhe wäre.

Astrid Lindgren

Aus dem Schwedischen

von Anna-Liese Kornitzky

(Oetinger Lesebuch, Almanach 1997/98, 34. Jahrgang, Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg)

Regina

 

 
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