Oldenburger STACHEL Nr. 235 / Ausgabe 6/02      Seite 14
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Was ich immer schon mal sagen wollte ...

Gedanken einer Behinderten zum Versuch der Verständigung
mit "Normalos"

Ich bin nichts "Besonderes" -
oder "Voyeurismus -
Nein Danke!" -
Interesse? Gerne. Danke.

Wenn ich mein bisheriges Leben betrachte, so scheint es mir, als hätte ich einen großen Teil davon unter den neugierigen Augen meiner Mitmenschen verbracht.

Ich fühle ich enteignet, meiner selbst entfremdet und begann mich zu fragen, ob ich nur durch andere eine Existenzberechtigung hätte.

Die Vermutung wurde zur Überzeugung insofern, als sie durch äußere Einflüsse und die Erfahrungen, die ich machte, ständig bestätigt wurde.

Überdies war ich schon bald nicht mehr fähig, gegenteilige Botschaften überhaupt wahrzunehmen bzw. ihnen Bedeutung beizumessen.

Die "Selbsterfüllende Prophezeihung" führte nach und nach zu einer fast völligen Aufgabe meines authentischen Selbst.

Das ist alles!

Behinderung ist ein
besitzanzeigendes Fürwort I
- Menschen -

In unserer Gesellschaft werden zwischenmenschliche Beziehungen oft durch einseitige Machtdefinitionen ersetzt, durch das Recht geprägt, daß der per Definition Normalere, Stärkere, Mächtigere den per Definition Schwächeren, Unfähigeren besitzt und diesem deshalb auch die Regeln diktiert.

Mit der Steigerung der normativen Attribute entsteht eine Hierarchie und werden Beziehungen unter Gleichen verhindert und einseitige Abhängigkeiten geschaffen.

Gefühle wie Sympathie, Liebe, Solidarität sind unter diesen Umständen nicht möglich, wenn auch oft erwünscht.

Weil die bestehenden Unterschiede im Vergleich aufgelöst werden, kann es zu keiner wechselseitigen Abhängigkeit kommen, die ein wesentlicher Bestandteil "echter" Beziehung ist.

Behinderung ist ein allgemein akzeptiertes Vergleichsmoment, welches in Beziehung gesetzt zu einer relativen Normalität immer "schlechter" abschneidet.

Je mehr ein Behinderter dieser "Normalität" entspricht, desto eher wird er von den "noch nicht Behinderten" akzeptiert und seine Möglichkeiten, sich zu assimilieren, steigen, auch wenn dies auf Kosten seiner gesamten Person geht, die immer noch gleich und different ist.

Die Hierarchie setzt sich also bei Behinderten fort. Es entsteht ein "Ich bin besser als Du", was jede Solidarität unter verschieden Behinderten verhindert.

Und: Assimilation ist nicht gleich Integration, so wie räumliche Nähe zu Behinderten noch keine soziale Nähe bedeutet.

Das Prinzip funktioniert nur solange wir es akzeptieren.

Tun wir es nicht!

Behinderung ist ein
besitzanzeigendes Fürwort II
- Objekte -

Objekte sind leblose, seelenlose, unpersönliche Dinge, denen möglicherweise eine Funktion, ein Nutzwert, ein Gebrauchswert, eine Seltenheit oder einfach ein ideeller Wert zukommt.

Objekte kann man ohne Rücksicht auf Verluste verändern, berichtigen, erweitern und amputieren, um ihre Funktion zu optimieren.

Objekte sollte man pflegen, sauberhalten, angemessen (also gut) behandeln, um ihre Lebensdauer zu erhöhen.

Ein Objekt ist ein Ding, mit dem etwas geschieht oder geschehen soll.

Ein Objekt ist, künstlerisch und philosophisch gesehen, etwas, das aus verschiedenen Bestandteilen/Materialien zusammengesetzt ist. Es ist kein unteilbares Ganzes oder, wie Leibnitz sagt, keine Monade.

Ein Objekt kann ich mir zu eigen machen und dann gehört es mir und ich kann mit ihm machen, was ich will.

Ein Objekt legt keinen Widerspruch ein. Es geht höchstens kaputt.

Ist das Objekt menschlich, sind zu seiner Pflege noch gewisse Bedürfnisse zu beachten, im Übrigen gilt oben Gesagtes.

Daß Behinderte Menschen sind, ist eine so triviale Erkenntnis, daß sie in der Boulevard-Presse als Schlagzeile erscheinen könnte.

Daß Menschen ein jeweils unteilbares Ganzes sind, ist schon weniger bekannt.

Diesen Respekt wollen wir!

Behinderung -
ein Eigenschaftswort?

Eine meiner vielen Eigenschaften ist es, behindert zu sein.

Es ist eine dominante Eigenschaft. Sie betrifft nahezu alle Bereiche meines Seins, so, wie es mich erheblich betrifft, Frau zu sein.

Denoch ist sie nicht mein einziges und schon gar nicht hevorstechenstes Merkmal. Ohne sie wäre ICH nicht ICH, nur über sie definiert, bin ich nicht vollständig erfaßt.

Behinderung ist ein Grund, sich mit Gleichartigen zu solidarisieren.

Meine übrigen Attribute bringen mich dazu, Gleiches mit Normalos zu wünschen und zu versuchen.

Schön wär', wenn es klappt!

Ulla Bertram

 

 
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