Oldenburger STACHEL Ausgabe 1/96      Seite 5
 
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Lernt Streiken!

In Deutschland geht alles seinen geruhsamen Gang. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer, 1234567 Weihnachtsmänner sorgen dafür, daß das so bleibt. Gewerkschaften und Kapital arbeiten, ist es nicht rührend, Hand in Hand an einem "gemeinsamen" Konzept "für Arbeit", halbstaatliche Monopolunternehmen starten unglaubliche Raubzüge, die Mieten befinden sich auf dem Niveau des Gesamteinkommens Geringverdienender, T-Shirts sind manchmal billiger als Brote, die (offizielle) durchschnittliche Arbeitslosenquote liebäugelt mit der 10 Prozent Marke, es verhungern wieder Menschen in Deutschland. In den Betrieben sind Überstunden gefragt, wer von Neueinstellungen spricht, ist verdächtig. Deutschland ist wieder im Krieg, wenn auch nur "ein bischen", das darf selbstverständlich Geld kosten, auch größere Umzugs- und Neubauvorhaben der Bundesregierung unterliegen nicht dem Rotstift, zum Sparen gibt es ja das Bildungswesen und andere soziale Bereiche.

Die Bevölkerung weint

Die Bevölkerung weint leise vor sich hin und schaltet den Fernseher an, heile Welt, flutsch flutsch, von vorn. Sich wehren? Um Gottes Willen, das geht doch nicht. - Doch, es geht. Werfen wir einen Blick nach Frankreich, wo die Regierung vor bzw. schon durchgeführt hat, die nötige Arbeitszeit für das Beziehen einer vollen Rente von 37.5 auf 40 Jahre heraufzusetzen, die Sozialhilfe und ähnliche Leistungen zu besteuern, Krankenversicherungsbeiträge dramatisch zu erhöhen. Genau wie hier sinkt die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder laufend, niemand glaubt den Zauber mehr, aber es gibt einen kleinen Unterschied: Die Franzosen lassen sich das nicht mehr gefallen und gehen auf die Barrikaden. Im Dezember 1995 wurde Frankreich von einer Protestwelle erfaßt, wie es sie lange nicht gegeben hat.

Bisher sah es so aus, als ob Frankreichs Menschen sich von den klassischen Positionen und Organisationen der Arbeiterbewegung aus Enttäuschung abgewendet hätten, sie wählten die rechten Parteien an die Macht.

Werch ein Illtum! Vor der Nationalversammlung verkündete Alain Juppe'am 15. November unter Anderem:

"Die Franzosen sind sensibel gegenüber Ungerechtigkeiten des Systems, das familiäre Unterstützung gewährt, ohne die finanziellen Bedingungen zu berücksichtigen, ohne Steuern, nach einer Regelung, die die Familiengröße zur Grundlage macht. Eine Mehrheit der Öffentlichkeit hat sich davon abgewendet und wünscht eine Steuer auf die familiären Unterstützungsgelder zu erheben" Eine Durchführung dieses Vorhabens ist für 1997 vorgesehen. Weiter plant er, die Beiträge zur Sozialversicherung in einem Etappenplan ganz von den Schultern der Unternehmer zu nehmen und den Arbeitnehmern aufzubürden. Die Rentenfrage gedenkt er über das Prinzip einer Rentensparkasse zu erledigen.

Strategisch unklug

Diese und andere Vorhaben in einem Rutsch anzukündigen, war sicherlich keine strategische Klugheit, am bundesdeutschen Beispiel haette die französische Regierung lernen können, daß es viel Streß erspart, wenn solcherlei Sparmaßnahmen in vielen kleinen Häppchen und getarnt durch niedliche Wahlkampflügen über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden.

Vorsicht an der Bahnsteigkante!

Die Eisenbahner waren mit die ersten, die sich zu Taten durchrangen, Ende November begannen die ersten Streiks, am 24. November legten fünf Millionen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes die Arbeit für einen Tag nieder, von den Eisenbahnern jedoch kehrten etliche nicht zur Tagesordnung zurück. Nach zwei Tagen lagen nicht nur der Schienenverkehr, sondern der gesamte öffentliche Nahverkehr in den Großstädten still, der Streik hatte sich auf die Pariser Verkehrsbetribe ausgeweite. Weiter zwei Tage später schlossen sich weite Bereiche der Wasser und Elektrizitätswerke an, bei der Post fielen vier große Verteilungszentren aus, zwei wurden gar besetzt.

Ein Streikender erklärte: "In gewisser Hinsicht sind wir Eisenbahner doppelt von den Kürzungen der Regierung betroffen. erstens durch die allgemeinen Sozialkürzungen, zum Beispiel im Gesundheitssystem, und zweitens durch die Zerstörung unseres Rentensystems. Gegenwärtig können die Lokführer mit 50 Jahren in Rente gehen. Das hört sich gut an, und viele denken, das ist ein außerordentliches Privileg, aber nach 30 Jahren Schichtdienst sind viele am Ende ihrer Kräfte aund auch aus Gründen der Fahrsicherheit ist das wichtig. Wir bekommen diese frühe Rente nicht geschenkt, sondern müssen dafür auch wesentlich mehr in die Sozialversicherung einzahlen, nämlich sechs Prozent unseres Bruttoeinkommens, während andere nur etwa zwei Prozent bezahlen. Dazu kommt noch, daß mit dem ständigen Abbau der Arbeitsplätze der Arbeitsdruck immer mehr steigt." Hierzu ist anzumerken, daß in den letzten zehn Jahren bei der französischen Bahn über 70000 Arbeitsplätze abgeschafft wurden.

Stille Nacht...

In Frankreich demonstrierten im Dezember zeitweise bis zu 2 Millionen Menschen auf den Straßen. Als über Weihnachten Kompromisse in Aussicht gestellt wurden und das Geld knapp wurde, ließ die Energie nach, die Feiertage taten mit den dazukommenden Bräuchen und Verpflichtungen ein übriges dazu, es ist wieder Ruhe eingekehrt im Lande. Ein wenig brodelt es aber noch, wenn die nächsten Sparbeschlüsse in die Tat umgesetzt werden sollen, wird es sicherlich nicht so ruhig abgehen, wie bei uns in Deutschland. Hurra der Kaiser. Ob sich hier noch einmal was ändert?

Wuffel


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