Oldenburger STACHEL Ausgabe 10/96      Seite 12
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

"Ihr Zug fährt hier nicht mehr"

Hannover Hbf stillgelegt...

Samstag, 24. August 1996, 20.30 Uhr. Die Welt am Hauptbahnhof Hannover scheint noch in Ordnung. Völlig in Ordnung? Nun, nicht ganz. Die große Anzeigetafel und überall verteilte Ersatzfahrpläne von der Größe des normalen Abfahrt-Fahrplans verkünden bereits das Unvermeidliche: Von 21.00 Uhr bis 5.30 Uhr ruht der Zugverkehr in Hannover Hauptbahnhof. Ein Blick auf den Ersatzfahrplan verrät: Um 21.08 soll an diesem Abend der letzte Zug planmäßig den Hauptbahnhof verlassen.

Bahn AG: "Wir bauen für Sie ein neues Stellwerk"

Bereits vor dem letzten Zug - und natürlich erst recht danach - wird der gesamte Zugverkehr von Wunstorf, Lehrte, Laatzen, Langenhagen und Linden aus abgewickelt. Als Zubringer werden über siebzig von der Bahn AG gecharterte Busse der verschiedenen lokalen Verkehrsunternehmen eingesetzt, die vom direkt hinter dem Bahnhof gelegenen Zentralen Omnibus-Bahnhof aus starten.

Chaostag am ZOB

Genau dorthin begeben wir uns nun mal als erstes. 20.40 Uhr. Die Ausschilderung ist noch nicht so perfekt wie sie sein sollte, aber immerhin ändert sich daran den Abend über auch nichts mehr großartig. Am ZOB selbst weisen fünf ziemlich kleine Schilder den Weg zu den Bussteigen: "Lehrte/Wunstorf", "Langenhagen/Linden" und "Laatzen". Aha. Von Fahrplänen keine Spur und das Personal konzentriert sich im wesentlichen um einen Info-Container der B.U.S.-Gesellschaft, an dem gut sichtbar der Hinweis hängt, man erteile "nur Informationen zu den Linien der B.U.S.". Immerhin, der eine oder andere Bahn-Bedienstete ist auch zu erblicken und stets von Bahn-Kunden umringt.

An den fünf Bussteigen steht bereits der eine oder andere Bus. Momentan hat der große Run auf den ZOB noch nicht eingesetzt, obwohl die ersten Pendelbusse nach Lehrte und Wunstorf bereits um 20.35 Uhr gestartet sind - für den ICE um 21.15 Uhr hat man heute eben vierzig Minuten früher da sein müssen. Gewußt haben das längst nicht alle...

Alle Busse haben eine Einsatznummer, die auf einem Pappschild in der Frontscheibe hängt. Für ein zweites Pappschild mit den Ziel des Busses im Klartext war wohl kein Geld mehr da (oder keine Zeit oder keine Pappe oder es schlicht vergessen worden). Der Fahrer des Ersatzbusses Nr. 28 trägt es mit Humor: In allen Zielschildern steht "28" und der Zielfilm ist so gedreht, daß lediglich der Schriftzug "hin und zurück" sichtbar ist. Na dann mal los! - Neben dem ganzen Bahn-Trubel kommt ein Bus mit dem Schild "Kattowice" an - ob er da nun herkommt oder hinfährt, ist nicht so ganz klar, wahrscheinlich ist aber beides, da jede Menge Leute (aus Kattowitz?) aussteigen und große Menschentrauben (mit Ziel Kattowitz?) die Türen zum Einsteigen umlagern.

Hannover - Ein Bahnhof stirbt aus

Wieder zurück im Bahnhof. Mittlerweile ist es 20.50 Uhr. Am Bahnsteig 7 und 8 fahren die beiden letzten planmäßigen ICE für heute abend nach Hamburg und Bremen. Kaum sind sie weg, laufen die Zuganzeiger neu ein. Abfahrten 21.15 und 21.24 Uhr!? Laut Ersatzfahrplan ist doch ab 21.08 Uhr Schluß. Ein Blick auf den Fahrplan-Monitor. Auch dort werden munter die weiteren normalerweise verkehrenden Züge angezeigt. Wir weisen andere Reisende darauf hin, daß das so nicht ganz stimmt und senken somit die Quote der von der Bahn AG aufs Glatteis geführten ein wenig.

An Gleis 9 ist bereits ein Bautrupp eingetroffen. Unsere Vermutung, da fährt wohl heute nichts mehr, wird wenige Momente später zur Gewißheit, als einer Bauarbeiter mit einem großen Bolzenschneider anfängt, die Kabel zu den Indusi-Magneten (Induktive Zugsicherung, verhindert das Überfahren des Rot-Signals, Anm. d. Red.) durchzuschneiden und drei weitere das Gehäuse eines Weichenantriebs runterruppen. Eine Gruppe Jugendlicher beäugt das Schauspiel. Die Neugierde schlägt in blankes Entsetzen um als sie erfahren, daß hier heute abend kein Zug mehr kommt. Kurzerhand wird einer der Bauarbeiter zum Kundenbetreuer und informiert auch die anderen Fahrgäste auf dem Bahnsteig, mehrheitlich Kids, die wohl am Reincarnation-Rave teilgenommen haben, der mit dem richtigen Gespür für gutes Timing genau auf dieses Wochenende gelegt worden ist. Hektische Betriebsamkeit setzt ein, drei Minuten später ist der Bahnsteig leer.

Der letzte Zug aus Hannover

Wie auch die anderen Bahnsteige teilweise schon wie ausgestorben wirken. 21.02 Uhr. Eine hektische junge Frau will nach Lohnde. Glück gehabt. Um 21.08 Uhr fährt dieser Zug als letzter von Gleis 11. An Gleis 1 beginnen derweil bereits die Bauarbeiten. Wir gesellen uns dorthin. 21.09 Uhr. Der Lohnde-Zug ist weg. Ein Zug schleicht noch durch das östliche Weichenvorfeld. Hannover. Endpunkt. Das Funkgerät der beiden Bauarbeiter an Bahnsteig 1 quäkt: "Gruppe Berger, ich habe jetzt die Freigabe. Die Arbeiten können anfangen." Aha. Nun geht es also los. Wirklich? Eine Minute später erneute Wortmeldung: "Gruppe Berger, Arbeiten einstellen. Ich wiederhole: Arbeiten einstellen" - "Arbeiten sind eingestellt." Die Umstehenden quittieren das entsprechend: "OK, das wars mit dem großen Umbau. In drei Wochen probieren wir es nochmal."

Zum Glück ist es nicht ganz so schlimm. Lediglich ein arg verspäteter IC muß noch durchgeschleust werden. Er kommt von Westen, steht ein paar Minuten und erhält dann per Lautsprecher die Anweisung "auf Ersatzsignal" zu fahren. Auch egal. Viele Züge können ihm ja nicht im Wege rumstehen.

Zwei Minuten später dann der große Moment, im Funkgerät heißt es: "Die Arbeiten können jetzt fortgesetzt werden." Diesmal ohne Widerruf. Ein dieselgetriebener Bauzug fährt umher und präsentiert wenige Minuten später die erste Trophäe des Abends: ein auf drei Betonblöcken montiertes Rangiersignal, das jetzt einsam auf dem Ladewagen steht.

Alle Lichter gehen aus

21.32 Uhr. An der östlichen Bahnhofsausfahrt gehen alle Signal-Lichter aus. Bis jetzt haben die alten Signale wenigstens noch Halt gezeigt. Nun zeigen sie gar nichts mehr. Die gesamte Zugsicherung außer Gefecht.

21.34 Uhr. Sie leuchten wieder. Nein. Nicht "wieder"! Die neuen Signale sind eingeschaltet worden. Die Ausfahrt ist wieder in rote Haltbefehle gehüllt, allerdings jetzt bereits vom neuen Stellwerk aus. Teilweise sind die neuen Signale noch von den alten verdeckt, weshalb diese demontiert werden müssen. Die Weichenantriebe müssen auch noch neu angeschlossen werden. Im großen und ganzen hält sich die Hektik aber in erfreulich engen Grenzen. Untermalt wird die gespenstische Leere auf den Bahnsteigen von einer regelmäßig wiederholten Ansage: "Meine Damen und Herren, wir haben für Sie ein neues Stellwerk gebaut. Wegen umfangreicher Schaltarbeiten ist der Betrieb in Hannover Hauptbahnhof bis 5.30 Uhr eingestellt." Die einzigen, die davon noch nichts mitbekommen haben, sind die Monitore mit den "aktuellen" Fahrplänen. Sie lügen munter vor sich hin: "Abfahrt 21.56 Uhr. Abfahrt 22.10 Uhr. Abfahrt 22.21 Uhr..."

Die wenige Hektik bei den Bauarbeitern wird durch die Kunden mehr als ausgeglichen. Denen ist es offensichtlich völlig egal, was die Bahn AG da Tolles "für Sie" gebaut hat. Der erste Eindruck ist die leere Anzeigetafel in der Empfangshalle. Anders als noch vor einer Stunde sind die Fahrgastströme jetzt klar kanalisiert: Alle wollen zum ZOB. Wir auch. Wir entscheiden uns für Laatzen als Betrachtungsobjekt für die Frage, wie gut die Bahn AG wohl den Ersatzverkehr und die Umleitungen managt. Von dort aus kommt man schließlich notfalls auch ohne Bahn AG wieder zurück nach Hannover...

Ersatzbusse fahren wirklich!

Am Bussteig nach Laatzen stehen zwei Busse. Wir setzen uns in den hinteren. Überraschenderweise und ohne daß ein zwingender Grund dafür augenscheinlich ist, fährt dieser zuerst los. Wir fragen uns zum wiederholten Male, wer denn eigentlich garantiert, daß die Anschlüsse an den Ersatzbahnhöfen zwischen Bus und Bahn klappen.

Wir fahren über Hamburger Allee - Schiffgraben - Hildesheimer Straße nach Laatzen. Der Bus schwimmt so im Verkehr mit; offensichtlich ist die Drosselung auf 70 km/h, so sie denn existierte, abgeschaltet. Der einzige längere Zwischenhalt findet auf einer Kreuzung statt, als der Busfahrer nicht recht weiß, ob er nun abbiegen soll oder lieber nicht. Er entscheidet sich schließlich dafür und steht eine Minute später am Bahnhof Hannover-Laatzen.

Bf. Laatzen: Beobachter als unbezahltes Service-Personal

Dunkel ist's. Die beiden Bahnsteiggleise - Gleis 13 und Gleis 16 - liegen beiderseits der Schnellfahrstrecke. Zu Gleis 16, Richtung Süden, führt eine unbeleuchtete Bautreppe hinab. Man kann sie auch übersehen, wenn man nicht weiß, daß sie hier ist. Der Bahnsteig ist nicht überdacht, normalerweise endet hier um 20.06 Uhr der Zugbetrieb. Heute halten in dieser heimeligen Umgebung nicht nur diverse ICEs, sondern auch die Euro-Night-Züge nach Wien und Zürich.

Personal ist auf dem Bahnsteig nicht zu entdecken. Selbsthilfe ist gefragt und wir helfen fleißig mit. Die Kunden stürzen sich notgedrungen auf die Zugbegleiter der jeweils einfahrenden Züge. Diese zeigen sich ungewohnten Situation nicht immer gewachsen. Einer will eine offensichtlich aus Osteuropa stammende Frau, die kein Deutsch spricht und mit dem wiederholten Ausspruch "Passau, Wien" klar macht, daß sie den Euro-Night nutzen will, erstmal mit seinem Regionalexpreß bis Göttingen mitnehmen. Da könne sie dann ja umsteigen. Dumm nur, daß der Euro-Night den Regionalexpreß auf halber Strecke nach Göttingen überholt. Wir intervenieren. Der Bahn-Angestellte redet sich raus: "Die Frau sagt ja nicht, was sie will." Wir bugsieren sie aus dem Zug, indem wir einfach ihre Koffer auf den Bahnsteig stellen. Später werden wir sie auf dieselbe Art und Weise dazu bringen, in den Euro-Night einzusteigen.

22.14 Uhr. Eine junge Frau will nach Hildesheim. Verschiedene Zugbegleiter werden sich noch anbieten, sie bis hier- oder dorthin mitzunehmen. Dabei ist es doch so einfach: 22.59 Uhr Laatzen ab, 23 Uhr nochwas Hildesheim an. Fertig.

Zugführer: Wohin fährt mein Zug?

Schwieriger gestaltet sich der Fall einer anderen Frau, wohl ebenfalls Rave-Besucherin, die um etwa 22.30 Uhr auftaucht und nach Göttingen will. Normalerweise fährt da ja um 23.08 Uhr ein Regionalexpreß ab Hannover Hauptbahnhof. Der taucht auch heute mit seiner Zugnummer auf dem Ersatzfahrplan auf. 23.14 Laatzen ab. Allerdings nur bis Elze. 0.31 Uhr ist dann nochmal ein Zug bis Göttingen verzeichnet. Die Frau kann es nicht begreifen: "Da bin ich doch normalerweise schon in Göttingen." Mit einem Zugbegleiter im Feierabend und einem Lokführer vor dem Schichtwechsel diskutieren wir: Im offiziellen Fahrplanwerk, das der Zugbegleiter dabei hat, steht der Zug bis Göttingen drin. Die Meinungen sind geteilt. Der Zug wird als bis Elze fahrend per Lautsprecher angekündigt. Der Zugführer dieses Zuges ist nach der Einfahrt denn auch leicht genervt: "Ich weiß auch nicht was das soll." Diensttelefone gibt es in Laatzen nicht, wie der wartende Lokführer in rheinischem Dialekt lakonisch anmerkt: "Nicht mal am Signal!" Zwei Minuten später kommt der Zugführer erneut vorbei: "So, ich fahr bis Göttingen. Ist mir doch egal, was die hier sagen." Die Frau und der Zugbegleiter, der bis Kreiensen fahren muß, sind glücklich.

Abenteuer Busfahrt

Zwischenzeitlich ist von anderen Bahn-Kunden wenig Erbauliches zu hören. Nach Linden kommen die Ersatzbusse gar nicht durch wegen des starken Verkehrs zur Music Hall (die Rave-Party läßt mal wieder grüßen...), hier und da verfährt sich schon mal ein Bus, und daran, daß es ja auch Leute gibt, die in Hannover umsteigen, hat wohl irgendwie auch keiner gedacht. Bei den ganzen Bustransfers, die alle über den ZOB laufen, geht jedwede Umsteigebeziehung natürlich den Bach runter. Wir treffen einen Bayern, der aus dem Nordwesten nach München fahren wollte, und sich gerade mit dem Gedanken anfreundet, in Hannover hängengeblieben zu sein. Er hat den Fehler gemacht, sich seinen Fahrplan am Service-Point geben zu lassen. Die haben halt nur ein HAFAS-Fahrplansystem und somit von der Ausnahmesituation in Hannover keine Ahnung. Merke: Fahrpläne immer im Reise-Center holen!

Wir nehmen den letzten planmäßigen Ersatzbus von Laatzen zurück zum ZOB. 23.45 Uhr. Der Bus ist voll. Ein Interregio war noch angekommen. Wir grinsen: "Stell Dir vor, es kommt ein Fernzug, und da steht ... ein Bus...". Nicht ganz klar ist uns, wie und wo denn wohl diese Leute noch irgendwo anders hinkommen wollen als bis Hannover.

Ruhe nach dem Sturm

Der Bus fährt über Messeschnellweg - Marienstraße - Hamburger Allee zum ZOB. Dort geht es mittlerweile etwas ruhiger zu. Wir schauen nochmal in den Bahnhof. Die Aufgänge sind mit Flatterband abgesperrt. An Bahnsteig 6 (Gleis 13/14) sind die Montagearbeiten bereits weitgehend abgeschlossen, die alten Signale sind verschwunden, die neuen zeigen weiterhin rot. Wir beschließen den Tag mit der Erkenntnis, daß der morgige Abend spannend zu werden verspricht: Da ist wohl nochmal erheblich mehr in Hannover los, und es bleibt anzuwarten, ob die Bahn AG aus den jetzt passierten Pannen gelernt hat und die Abwicklung des Ersatzverkehrs reibungsloser abläuft...

Erlebnisbericht von Dirk Hillbrecht


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