Oldenburger STACHEL Ausgabe 11/96      Seite 1
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Augen vor Armut nicht verschließen

Mittagessen für kleine Kinder

Armut ist ein Problem, das vor den reichen "Industrienationen" nicht haltmacht, vor uns nicht haltmacht. Öffentliche Armut bei schier unermeßlichem privatem Reichtum hat sich längst schon als scheinbares Naturgesetz in unseren Köpfen festgesetzt: Daß die öffentlichen Kassen und deren notorische Leere jedes Handeln der PolitikerInnen - oder Nichthandeln - begründen, wird selten noch als problematisch angesehen, obwohl der private Reichtum sich durchaus nicht versteckt, seine Unantastbarkeit im neuesten Modell von Mercedes schamlos zur Schau stellt.

1500 Sozialhilfekinder in Ol.

Armut trifft immer stärker auch den Einzelnen, den Rentner, die Arbeitslose, den Pflegebedürftigen, die Alleinerziehende und immer stärker auch die Kinder. 4500 Vorschulkinder besuchen Krippen und Kindergärten in der Stadt Oldenburg, und jedes dritte davon ist gezwungen, in Armut zu leben, d.h. die Sorgeberechtigten haben so wenig Einkommen, daß sie auf Sozialhilfe oder zumindest Beihilfen - z.B. Bekleidungsbeihilf e - angewiesen sind. Und von diesen Kindern essen nach Beobachtungen von Kindergärtnerinn en zunehmend weniger in den Kindertagesstätte n zu Mittag, obwohl sie es wahrscheinlich möchten und auch gut gebrauchen könnten.

Das ist eine Folge der Armut, daß eine geregelte warme Mahlzeit am Tag wegfällt, weil sie zu teuer ist. Es gibt weitere Folgen der Armut, die die betroffenen Kinder auszugrenzen drohen: Spielzeug kann nicht angeschafft werden, Fahrräder sind kaum erschwinglich, Teilnahme an Fehrienfahrten sind nicht drin, usw. Grüne und SPD sind bei ihren Verhandlungen über eine gemeinsame Politik für die nächsten fünf Jahre im Stadtrat übereingekommen, daß sie nicht die Augen vor diesen Problemen verschließen wollen. Das ist unendlich schwieriger als das Verdrängen, denn die schon genannten leeren Kassen machen es den KomunalpolitikerInnen schwer, auch nur in Ansätzen die Armutsprobleme abzumildern.

Essenzuschuß - dicker Finanzbrocken

Mittagessen für die Kinder in den Kindertagesstätten wollen GRÜNE und SPD nur bezuschussen, nicht einmal kostenlos anbieten. Und allein das ist ein dicker finanzieller Brocken, weil die Armut von unserer Gesellschaft zum Massenproblem gemacht worden ist:

4500 Kinder sind in den Kindertagesstätten, jedes dritte davon muß in Armut leben, wäre also zuschußberechtigt. Das wären 1500 Kinder. Schätzungsweise die Hälfte davon nimmt Mittagessen im Kindergarten oder in der Kinderkrippe in Anspruch, bzw. würde es in Anspruch nehmen, wenn es finanziell drin wäre. Das wären 750 Kinder. Eine warme Mahlzeit, die den Namen verdient, wird unter 5 DM nicht angeboten werden können. Bei 22 Mahlzeiten im Monat wären das 110 DM pro Kind. 40 DM sind nach der Meinung von GRÜNEN und SPD als Eigenanteil zumutbar, so daß sich der kommunale Zuschuß pro Kind im Monat auf 70 DM belaufen würde. Bei 750 Kindern immerhin schon 52500 DM im Monat, bei 11 Monaten im Jahr - ein Monat wird wegen Ferien ausgespart - macht das für den städtischen Haushalt den Betrag von 577500 DM.

Essen geht vor Sparen

Ein Zuschuß für das Mittagessen von Vorschulkindern, die in Armut zu leben gezwungen sind, löst nicht einmal ansatzweise die Probleme, die sich aus der Armut ergeben - und doch stellen sie die PolitikerInnen im Rat vor große Haushaltsprobleme. Man wird mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen können, daß die Bezirksregierung als Kommunalaufsicht einen solchen Posten im Haushalt bei dem ohnehin zu erwartenden hohen Defizit zum Anlaß nehmen wird, Kritik wegen der Ausweitung freiwilliger Leistungen zu üben. Und diese Kritik kann bis zur Nichtgenehmigun g des Haushaltes führen.

Das alles sollte man mit berücksichtigen, bevor man die Absicht von Rot-Grün beurteilt - oder verurteilt, mit einem Zuschuß zum Mittagessen die Folgen der Armut abzumildern. Niemand glaubt, daß damit Probleme gelöst werden, aber wichtig ist, daß sich KommunalpolitikerInnen weigern, die leeren Kassen zur Begründung dafür zu mißbrauchen, die Augen vor der Armut zu verschließen. Der Zuschuß zum Mittagessen wird im Einzelfall dazu beitragen, daß es eine tägliche warme Mahlzeit gibt. Vor allem aber wird er eine Anklage sein, daß es sich unsere Gesellschaft leistet, so viele Menschen an die Seite zu drängen.

Gernot Koch


Diese Veröffentlichung unterliegt dem Impressum des Oldenburger Stachel. Differenzen zur gedruckten Fassung sind nicht auszuschließen.
Nachdruck nur mit Quellenangabe, Belegexemplar erbeten.

 

 
  Differenzen zur gedruckten Fassung nicht auszuschließen. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Siehe auch Impressum dieser Ausgabe und Haupt-Impressum