Oldenburger STACHEL Ausgabe 2/97      Seite 1
 
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"Euthanasie"-Anstalt Wehnen

Nazis gaben nur den Rahmen

Der Oldenburger Ingo Harms, vielen aus Aktionen des Energierats und der Bürgerinitiative Umweltschutz bekannt, hat in seiner Doktorarbeit den Hungertod und die "Euthanasie" in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen untersucht. Er hat durch seine Forschungen schier Unglaubliches über das Menschen-Vernichtungsprogramm in dieser Anstalt zu Tage gebracht. Es ist sein Verdienst, diese verdrängte Oldenburger Geschichte in das Bewußtsein der Gegenwart zurückgeholt zu haben. Es ist unsere Verantwortung, sie nicht wieder vergessen und wiederholen zu lassen.

Neben seinen empirischen Forschungen hat Ingo Harms besonders die Einstellung und den Werdegang der mordenden Mediziner erkundet. Herausgekommen ist die Erkenntnis, daß die "Euthanasie" bereits systematisch seit dem Ende des ersten Weltkrieges propagiert und vorbereitet worden war - das Dritte Reich lieferte nur den passenden gesetzlichen Rahmen dafür. In einer Lesung im Degodehaus der Carl-von-Ossietzky-Buchhandlung trug Ingo entsprechende Passagen aus seinem Buch "Wat mööt wi hier smachten..." vor. Die folgenden Auszüge aus diesem Werk orientieren sich an den von ihm vorgestellten Abschnitten.

Leben wird "lebensunwert"

"Im Jahre 1920 veröffentlichten Karl Binding und Alfred E. Hoche ihr Buch "Die Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form". Karl Binding war einer der bedeutendsten Strafrechtslehrer Deutschlands, Alfred E. Hoche war Ordinarius für Neuropathologie in Freiburg. Sie eröffneten eine breite Diskussion um die Tötung von "Minderwertigen", die vom bisherigen rassenhygienischen Ansatz abwich. (...) Beide waren sich (...) in dem Urteil einig, daß es ein Ende haben müsse mit der Verschwendung gesellschaftlicher Ressourcen an das "lebensunwerte Leben". Sie beklagten, "welch Maß von oft ganz nutzlos vergeudeter Arbeitskraft, Geduld, Vermögensaufwendung wir nur darauf verwenden, um lebensunwertes Leben ...zu erhalten. ... Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke ..." Utilitaristische Überlegungen waren für die Befürworter der "Euthanasie" schon immer ein wichtiger Beweggrund gewesen. Nun entsprachen sie "der durch den Krieg und seine Folgeerscheinungen hervorgerufenen Gefühlslage der breiten Massen". Die Erfahrung des unterschiedslosen Massentodes hatte die Unantastbarkeit des Lebens relativiert und eine ökonomistische Sichtweise auf diese Frage gefördert." (S.12 f.)

Kinder"euthanasie"

"Erste Anzeichen einer planmäßigen Patientenvernichtung im Deutschen Reich gab es im Mai 1939, als das Gremium, das die Kindereuthanasie vorbereitete, seine Beratungen beendete. Der "Begleitarzt" und später zum "Leibarzt" Hitlers aufgestiegene Karl Brandt gehörte zu den Organisatoren der Beratungsgespräche. (...) Der Kindereuthanasi e-Erlaß "Betr. Meldepflicht über mißgestaltete usw. Neugeborene" erging - streng vertraulich - am 18.8.1939 an die Landesregierungen. Die Kinder-"Euthanasie" lief ohne Unterbrechungen bis zum Ende des zweiten Weltkrieges. Waren die Opfer zunächst Kinder im Alter bis drei Jahren, so wurde die Altersgrenze Mitte 1941 auf 17 Jahre erhöht. Dieser Mordaktion lag ein seit 1940 veröffentlichter Erlaß zugrunde. Sie zielte vor allem auf das eugenisch-medizinische Experiment. In den sogenannten "Kinderfachabt eilungen" einer Reihe von Heil- und Pflegeanstalten wurden rund 5 000 Kinder unvorstellbar grausamen Versuchen unterzogen, an deren Ende ihr Tod stand.

Schon im Juli hatten die Vorbereitungen der Euthanasie der Erwachsenen begonnen. (...) Karl Brandt und dem Leiter der Knzlei des Führers (KdF), Philipp Bouhler, stellte Hitler im Oktober 1939 eine Vollmacht aus, die auf den 1.9.1939, den Tag des Beginns des Zweiten Weltkrieges, rückdatiert wurde:

"Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann."

Diese Ermächtigung, geschrieben auf Hitlers privatem Briefpapier, wurde nicht selten als "Gesetz" bezeichnet und mißverstanden. Noch im Zuge der Recherchen zu dieser Arbeit stellte sich heraus, daß ein ehemals führender NS-Politiker und -Beamter in Oldenburg, der anonym bleiben will, sich nach wie vor in dem Irrtum befand, daß ein "Euthanasie-Gesetz" existiert habe. Zwar hatte es Vorarbeiten zu einem solchen Gesetz gegeben, doch Hitler wollte das Dekret erst nach dem Krieg unterschreiben. An dem Ermächtigungsschreiben fällt auf, daß der Kreis der Opfer nicht auf die "Minderwertigen " und "geistig Toten" beschränkt wird, wie es den Überlegungen Binding/Hoches und der gesamten folgenden "Euthanasie"-Debatte entsprochen hätte, sondern auf alle "unheilbar Kranke(n)" ausgeweitet wird." (S.17 f.)

Widerstand aus dem "schwarzen" Münsterland

"Im Sommer 1941 erreichte die Zahl der Getöteten die Marke von 70.000. (...) Widerstand gegen den immer unverhohlener zu Werke gehenden Patientenmord hatte sich an vielen Stellen geregt. Doch niemand drückte ihn so offen und öffentlich aus, wie der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen. Am 3. August 1941 geißelte er den Abtransport und das plötzliche Sterben von Patienten in den psychiatrischen Kliniken des Deutschen Reiches. Er betonte dabei das Kriterium der "Unproduktivität" und beschwor das Bild einer Zukunft, in der auch Altersschwache, Arbeitsinvaliden, Kriegsversehrte und Lungenkranke der "Euthanasie" zum Opfer fallen würden. (...) Der Wortlaut der Predigt verbreitete sich rasend schnell in Deutschland. Das Ausland benutzte den Fall für eine propagandistische Kampagne. (...) Viele Kirchenmänner schlossen sich Galens Haltung mit Predigten und Hirtenbriefen an. Obwohl Hitler sich auf dem Höhepunkt seiner Macht befand, zögerte er, den Bischof mit Gewalt zum Schweigen zu bringen. Er entschied, die Verfolgung von Galens bis zum Kriegsende zurückzustellen. Zunächst jedoch schien er sich gezwungen zu sehen, die "Aktion T 4" offiziell für beendet zu erklären. Im August 1941 gab er Karl Brandt den mündlichen Befehl, die "Euthanasie"-Aktion abzustoppen. (...) Anscheinend war das Krankenmordprogramm in Hitlers Überlegungen und Plänen zugunsten des Überfalls auf die Sowjetunion nicht nur in den Hintergrund getreten, sondern von ihm auch als eine mögliche Gefahr für seine Kriegspläne, in denen er keine Unruhe in der deutschen Bevölkerung gebrauchen konnte, eingestuft worden." (S. 21 f.)

"Euthanasie" durch Nahrungsentzug

"Tatsächlich wurde im Sommer 1941 das Signal für die Einrichtung einer noch gründlicheren Maschinerie des Tötens gegeben. Nun setzte die "wilde Euthanasie" ein. "Von 1939 bis 1945 wurden fast 200.000 wehrlose Menschen umgebracht..." Zieht man von dieser Zahl die während der "Aktion T4" 70.000 Ermordeten ab, bleiben fast doppelt so viele Opfer der Jahre 1941/42 bis 1945.(...) Gegenüber der "Aktion T4" änderten sich die Tötungsmethoden der "wilden Euthanasie". Wie auf einer Tagung der "T4"-Verantwortlichen im November 1941 beschlossen worden war, sollten die Morde durch überdosierte Medikamentenabgaben unter der Aufsicht zuverlässiger Ärzte, Schwestern und Pfleger erfolgen. (...) In der Praxis waren es jedoch eine Reihe verschiedener Tötungsmethoden. Wie Ernst Klee schreibt, waren es die "unzureichende Unterbringung (unbeheizte Anstalten), ... Nahrungsentzug, Überdosierung von Medikamenten und ... Spritzen". In der überwiegenden Zahl der Anstalten wurde die Auszehrung durch Unterernährung bevorzugt. Auch damit gab es bereits Vorkriegserfahrungen." (S. 22 f.)

"Sonderkrankenhaus" Blankenburg

"Götz Aly ist es zu verdanken, daß die Aufmerksamkeit der Forschung auf eine mögliche dritte Phase der NS-"Euthanasie" gerichtet werden konnte, die "Aktion Brandt". In den letzten Kriegsjahren wurden immer mehr Personenkreise von der "Euthanasie" erfaßt, "deren Lebensrecht zuvor nicht bestritten worden war". Sie wurden in besondere Kliniken verlegt, die als "Ausweichkrankenhäuser" bezeichnet wurden. Die "Euthanasie"-Ärzte und -Beamten gaben vor, Reservekliniken für ausgebombte Krankenhäuser in ländlichen, geschützten Gegenden einzurichten. Wie der Begriff "Sonderbehandlung" wird auch das Wort "Sonderkrankenhaus" in der Fachliteratur überwiegend als eine Tarnbezeichnung für die eigentliche Absicht des Patientenmordes gedeutet. (...) In den Sonderkrankenhäusern wurden neben üblichen Krankheitsfällen "physisch Kranke, geistig und körperlich Behinderte, Taubstumme, Blinde, Tuberkulöse, Fürsorgezöglinge, Arbeitsinvalide, zwangsverschleppte Ostarbeiter, Flüchtlinge, durch Bombenangriffe verwirrte Zivilistzen, offenkundig auch schwerverwundete Soldaten" behandelt. Es handelte sich um den so bezeichneten "unproduktiven" Ausschuß der Gesellschaft, der unter Kriegsbedingungen zunehmend als wirtschaftliche Last bezeichnet wurde und vernichtet werden sollte.

(...) Im Land Oldenburg wurden allein drei Krankenhäuser vom Typ "Aktion Brandt" errichtet: Es handelt sich um die Anlagen Huntlosen, Hahn und Kloster Blankenburg. Diese dritte Phase der NS-"Euthanasie" ist infolge der Geheimhaltung und Aktenvernichtun g weitgehend unerforscht. (...) Die Geschehnisse in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen wären gemäß den Phasen der NS- "Euthanasie" (...) der ab 1941 beginnenden "wilden Euthanasie" zuzurechnen, denn Transporte gingen von Wehnen nicht aus. Doch vielleicht ist diese Kategorisierung nicht mehr angemessen. Immer mehr schält sich heraus, daß die dezentralen Krankenmorde nicht erst mit dem angeblichen Stop der "Aktion T4" begannen. In vielen Anstalten scheinen Ärzte und Behörden schon im Laufe, ja zu Beginn der 30er Jahre auf eigene Faust vorweggenommen zu haben, was von Hitler und seinen Ärzten erst am Vorabend des Zweiten Weltkrieges systematisch in Angriff genommen wurde. Die Diskussion über die Ermordung der "Lebensunwerten" hatte ja bereits in der Weimarer Republik stattgefunden, und die Bereitschaft zur Vernichtung der Patienten war bei der Machtergreifung im Jahre 1933 unter Ärzten und Pflegern weit verbreitet.

(...) Die vorliegende Arbeit will die Geschichte und die Vorgeschichte der "Euthanasie" am Beispiel der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen verdeutlichen. Ihre Bedeutung weist allerdings darüber hinaus, denn neben Wehnen existierten in Oldenburg weitere Heilanstalten, wurden Sonderkrankenhä user, Siechenheime und Lazarette eingerichtet und "Verlegungen" vorgenommen. (...) (Es werden) Einblicke in die Kooperationsbereitsc haft oldenburgischer Medizinalbehörden und Ärzte mit der nationalsozialistischen Gewaltmedizin ermöglicht." (S. 23ff.)

Ärzte-Biographien

"Als der Tübinger Psychiater und Neurologe Robert Gaup im September 1925 sein Referat über "Die Unfruchtbarmachung geistig und sittlich Kranker und Minderwertiger" vor dem Deutschen Verein für Psychiatrie hielt, hörte ihm ein Oldenburger Kollege zu. Es war der Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen, Obermedizinalrat Dr. Kurt Mönch. In seinem anschließenden Bericht an den oldenburgischen Minister der sozialen Fürsorge heißt es unter anderem, daß die "geistig und sittlich Minderwertigen" dem Staat "geradezu unheimlich große Summen" Geldes entzögen. In den USA und der Schweiz habe man die "praktischen Folgerungen gezogen" und sei "zur Einschränkung des Nachwuchses geschritten". (...) "Für die Ausführung kommt einmal die Kastration in Betracht, das ist die Entfernung der Hoden oder Eierstöcke, eventuell die Bestrahlung derselben mit Röntgenstrahlen (...)... Zwang könnte überall da in Frage kommen, wo es sich um Verbrecher handelt, außerdem da, wo beide Ehegatten konvergent mit Geisteskrankheit belastet (sic) und somit mit einem sehr hohen Prozentsatz geisteskranker Nachkommenschaft zu rechnen ist. Außerdem sollten Geisteskranke, deren Zustand periodisch oder dauernd offene Fürsorge gestattet, zur Verhütung der hier unter allen Umständen unerwünschten Fortpflanzung unfruchtbar gemacht werden. Ebenso sollte bei unverbesserlichen Süchtigen (Alkohol u. Alkaloidsüchtigen) verfahren werden ...(...) Bezüglich der Lex lata müßte eine großzügige und freie Auslegung die Möglichkeit weitgehender Anwendung auf die erwähnten Fälle jetzt schon gewährleisten." Offenbar hatte das im Oldenburger Landtag 1927 diskutierte und abgelehnte "Lex Zwickau", zumindest in seinen rassenhygienischen Aspekten, in dem Direktor der Heilanstalt Wehnen einen nicht unbedeutenden Fürsprecher gefunden."(S. 36f.)

Antrag auf Verlobung

"Der 1887 in Oldenburg geborene Arzt Dr. Kr. wurde am 1.4.1925 Assistenzarzt in Wehnen. (...) Anfang der dreißiger Jahre wurde er Amtsarzt am Gesundheitsamt der Stadt Delmenhorst. Gemäß dem Erlaß des GzVeN waren es die Amtsärzte, denen die Denunziationen der Haus- und Krankenhausärzte wegen "Fortpflanzungsgefährlichkeit" der als "minderwertig" bezeichneten Patienten zugingen. Die Amtsärzte brachten die Fälle vor das Erbgesundheitsgericht.

Die Opfer der Zwangssterilisationen waren von einer normalen Heirat durch das "Ehegesundheitsgesetz" ausgeschlossen. In besonderen Fällen konnten sie jedoch eine "Befreiung von den Vorschriften des Ehegesundheitsgeetzes" beantragen. Das Verfahren wurde mit einem Fragebogen eingeleitet und bedurfte der Begutachtung durch den Amtsarzt und den Landesarzt. Im Fall der zwangssterilisierten Rosa P., die einen Antrag auf Verlobung mit einem Mann, "der erbgesund ist und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt", entschied Kr.:

"... wird der P. erwidert, daß sie auf Grund des Ehegesundheitsgesetzes den ins Auge gefaßten Mann nicht heiraten dürfte, daß sie dagegen heiraten dürfe 1) einen unfruchtbaren Mann, auch wenn dieser die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt u. 2) einen erbgesunden oder auch erbkranken Ausländer. Sie wird darauf hingewiesen, daß Zuwiderhandlungen strafbar sind."

Im Fall des Antrags der Verlobten M./Sch. urteilte Kr.:

"M. wirkt mit seinem unscheinbaren Körper, seiner gelblichen Hautfarbe, seinem dunklen Haar, dunklen Augen und sudetisch- ostbaltischen Rassetyp als Fremder in der nordisch-fälischen Umgebung seines Wohnortes. Falls er ein Mädchen der niedersächsischen Gegend heiratete, würde er nur zur Verschlechterung der Rasse beitragen können."

(...) Die Beispiele zeigen, wie sehr Opfer des "Erbgesundheitsgesetzes" den Amtsärzten ausgeliefert waren." (S. 50 f.)

Darüber sprechen!

Die Lesung von Ingo Harms war gut besucht, und im Anschluß ergaben sich Diskussionen und Gespräche zwischen den ZuhörerInnen. Eine Teilnehmerin berichtete, daß ihr Onkel während des Krieges auch Patient in Wehnen gewesen sei. Eines Tages habe der Hausmeister der Pflegeanstalt bei ihnen angerufen. Er habe sie gewarnt: "Wollen Sie Ihren Onkel behalten? Dann müssen Sie ihn sofort aus der Anstalt herausholen!" Das habe die Familie getan, der Mann habe überlebt. Es ist zu wünschen, daß durch die Diskussion über Ingos Buch viele weiteren Ereignisse dieses verdrängten Kapitels der oldenburgischen Geschichte an Tageslicht kommen.

(Ingo Harms, "Wat mööt wi hier smachten..." - Hungertod und "Euthanasie" in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen im "Dritten Reich", 227 Seiten, ISBN 3-925713-25-5)

achim


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