Oldenburger STACHEL Ausgabe 2/97      Seite 5
 
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Kriegsdienstverweigerung in der Türkei

Veranstaltung zu Verweigerung von Kurden und Türken am 21.2.

Beim Thema Türkei denkt mensch meistens nur an Kurdistan, Krieg und PKK, an massive Menschenrechtsverletzungen gegen KurdInnen, aber auch gegen die türkische Linke. Vielleicht erinnert sich mensch auch noch an den Hungerstreik türkischer politischer Gefangener im letzten Sommer, in dessen Verlauf 12 Menschen starben. So weit, so schlecht.

Es ist klar: die Türkei ist ein Land, daß sich in einem unerklärten Krieg befindet. Ein Krieg, der seit mehr als 10 Jahren andauert und mehr Opfer gefordert hat, als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Doch nicht nur wird in Kurdistan ein brutaler Krieg gegen die PKK und die kurdische Zivilbevölkerung geführt, gleichzeitig befinden sich türkische Truppen auf Zypern in einer immer wieder spannungsgeladenen Situation und auch das Verhältnis zum NATO-Partner Griechenland schliddert eher immer am Rande eines Krieges entlang. Die Türkei: eine hochmilitarisierte Gesellschaft am Rande des ökonomischen Zusammenbruchs.

Widerstand gegen diesen Krieg wird kaum wahrgenommen. Während auf der einen Seite zwar - selbst nach offiziellen Angaben - mehr als 250.000 Menschen ihrer Einberufung zum Militär nicht gefolgt sind, wird gleichzeitig das Militär als Garant des laizistischen (nicht-religiösen) Staates angesehen (auch von der türkischen Linken), und der Militärdienst ist der Initiationsritus für Männlichkeit: erst durch das Militär wird man zum Mann.

Vor diesem Hintergrund ist die Situation für die türkischen AntimilitaristInnen und Kriegsdienstverweigerer nicht einfach. 1990 erklärte der erste Kriegsdienstverweigerer öffentlich seine Weigerung, zum Militär zu gehen - ohne auf Resonanz zu stoßen. Seit einigen Jahren jedoch gibt es organisierte antimilitaristische Gruppen in Istanbul und Izmir, und die Zahl der öffentlich erklärten Verweigerungen dürfte mittlerweile bei etwa 30 liegen.

Der türkische Staat reagierte bis vor einem Jahr eher mit einer Doppelstrategie: Totschweigen der Kriegsdienstverweigerung auf der einen Seite und gleichzeitig Repression mit Hilfe von Anklagen nach Art. 155, der die "Distanzierung des Volkes vom Militär" unter Strafe stellt auf der anderen Seite. Als Folge davon kam und kommt es zu zahlreichen Prozessen gegen türkische AntimilitaristInnen auf der Grundlage des Art. 155, die überwiegend mit mehrmonatigen Haftstrafen endeten - teilweise aber auch mit Freisprüchen.

1. September 1995: die 1. Wehrpaßverbrennung

Geändert hat sich das Ende 1995: nach einem Freispruch von Osman Murat Ülke, Vorsitzender des Vereins der KriegsgegnerInnen Izmir, in einem Verfahren nach Art. 155 wird dieser direkt vom Gericht zum Rekrutierungsbüro des Militärs gebracht und erhält dort seinen Marschbefehl nach Bilecik (Provinz Bursa), wo er am 31. August 95 seinen Militärdienst antreten sollte. Als erklärter Kriegsdienstverweigerer erschien er dort natürlich nicht; stattdessen verbrannte er am 1. September 1995 in Izmir auf einer Pressekonferenz seinen Wehrpaß und bekräftigte öffentlich seine Kriegsdienstverweigerung (vgl. Stachel 10-11/95).

Es passierte zunächst - nichts. Jedensfalls nicht bis zum 7. Oktober 1996. An diesem Tag wurde Osman Murat Ülke zur Polizeistation in Izmir vorgeladen und - auf der Grundlage von Art. 155 - verhaftet. Es kam zunächst zu einem Verfahren vor dem Militärgericht in Ankara, da die Wehrpaßverbrennung als "Distanzierung des Volkes vom Militär" angesehen wurde. Nach einem ersten Prozeßtermin am 19. November 96, der noch ohne Urteil endete, wurde Osman aber zu seiner Militäreinheit nach Bilecik gebracht und dort aufgrund seiner Verweigerung arrestiert und wenig später ins Militärgefängnis nach Eskisehir verlegt. Dort kam es zu einem weiteren Verfahren wegen "fortgesetzem Ungehorsam im Militär". Nach einem Prozeßtermin am 29. Dezember 96 in Eskisehir - wieder ohne Urteil - wurde Osman überraschend freigelassen und sollte selbstständig zu seiner Einheit nach Bilecik zurückkehren. Dies tat er jedoch nicht, sondern bekräftigte stattdessen auf einer Pressekonferenz in Istanbul erneut öffentlich seine Kriegsdienstverweigerung.

Die Freilassung wurde von Osman so eingeschätzt, daß das Militär ihm die Möglichkeit geben wollte, unterzutauchen, um sich so des Problems zu entledigen. Osman war unbequem: sowohl in Freiheit, als auch in Haft oder Militärarrest. Auch wenn Osman nicht zu seiner Einheit zurückkehrte, so tauchte er doch auch nicht unter. Erwartungsgemäß wurde er daher bei einem Prozeßtermin in Ankara (wieder Art. 155 wg. der Wehrpaßverbrennung) erneut verhaftet. In diesem Prozeß fiel an diesem Tag auch das Urteil: sechs Monate Haft, die aber aufgrund der Untersuchungshaft bereits abgegolten sind.

Derzeit befindet sich Osman wieder bei seiner Einheit in Bilecik und wird wohl in Kürze erneut nach Eskisehir verlegt. Dort wird am 6. März das Urteil wegen "fortgesetzem Ungehorsams" verkündet. Weitere Verfahren wegen "Desertion" und erneut "fortgesetzem Ungehorsam" werden derzeit vorbereitet.

Verweigerung türkischer Staatsangehöriger in der BRD

Auch viele in der BRD lebende türkische Staatsangehörge stehen vor dem Problem des Militärdienstes. Ein vollständiges "Freikaufen" ist nicht möglich, eine "Restdienstzeit" von einem Monat bleibt immer noch abzuleisten. Für Flüchtlinge oder Kurden stellt sich zusätzlich das Problem möglicher Repression in der Türkei.

Seit einigen Jahren verweigern daher auch in der BRD lebende türkische Staatsangehörige zunehmend öffentlich ihren Kriegsdienst. In den letzten Monaten hat es in Solidarität mit Osman und den in der Türkei arbeitenden AntimilitaristInnen einige öffentlichen Verweigerungsaktionen gegeben, in denen Türken und/oder Kurden ihre Verweigerung erklärt haben.

Dieser Schritt ist zum einen mit rechtlichen Problemen (Aufenthaltsstatus bzw. Paßprobleme) verbunden, zum anderen kann er auch Auswirkungen auf Familienangehörige in der Türkei haben. Eine Woche nach der öffentlichen Kriegsdienstverweigerung von Ali Düzgün Düven z.B. erschienen Militärs bei seinem Vater Kemal Düven in seinem Heimatort in der Nähe von Elazig. Sie nahmen ihn in die nahegelegene Militärstation mit und fragten nach Ali. Wo Ali sich aufhalte, welche Adresse er in Deutschland habe, warum er den Kriegsdienst verweigerer usw. Alis Vater blieb ruhig, beteuerte, er wisse die Adresse in Deutschland nicht, und er habe keinen Einfluß auf seinen Sohn. Alis Vater wurde über Nacht in der Militärstation behalten. Am Morgen folgten weitere Verhöre, bevor Kemal Düven die Militärstation verlassen durfte. Seine Ausweispapiere wurden aber einbehalten.

Andere Verweigerer berichten von ähnlichen Erfahrungen.

Am 21. Februar findet daher auf Einladung der Graswurzelgruppe eine Veranstaltung mit Serdar Tekin vom - mittlerweile verbotenen - Verein der KriegsgegnerInnen Izmir und einem Vertreter türkischer/kurdischer Verweigerer in der Bundesrepublik statt. Bei dieser Veranstaltung geht es sowohl um die Situation in der Türkei als auch um türkische Staatsangehörige in der Bundesrepublik. Die Veranstaltung findet um 20 Uhr in der ALSO-Halle in der Kaiserstraße 19 statt und wird zweisprachig (Türkisch/Deutsch) sein.

Am 22. Februar ab 15 Uhr findet in Hamburg ein Seminar zu den Themen "Kriegsdienstverweigerung von Doppelstaatlern in Deutschland", "KDV in der Türkei" und "Asyl für KDVer in Deutschland" statt. Informationen dazu bei: Jörg Rohwedder, Güntherstraße 94, 22087 Hamburg, Tel.: 040/2543621 oder Mustafa Ünalan, c/o Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär, Oranienstraße 25, 10999 Berlin, Tel.: 030/61500530 oder bei der Veranstaltung am 21. Februar.

Andreas Speck, Graswurzelgruppe Oldenburg


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