Oldenburger STACHEL Ausgabe 2/97      Seite 1
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Selbstbewußtsein ist der beste Schutz

"Kann ich meine Tochter noch allein auf die Straße lassen?"

Die Erhöhung des Strafmaßes für Sexualstraftäter ist eine populäre politische Forderung dieser Tage. Vergrößerte Abschreckung soll zukünftige Taten verhindern. Abgesehen davon, daß die Wirksamkeit einer solchen Drohung harter Strafen zweifelhaft ist, greift jegliche Form der Bestrafung erst NACH einer Tat. Aber auch bei Sexualstrafdelikten ist die Dunkelziffer recht hoch (verschiedene Institutionen rechnen mit einem Faktor 5 bis 20), und selbst nach einer Anzeige kommt es nur bei etwa einem Prozent davon zu einer Verurteilung!

Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen ist somit ein fast risikoloses Verbrechen. Deshalb scheint es sinnvoller, den potentiellen Opfer durch vorbeugende Maßnahmen zu Selbstschutz zu verhelfen. Diese Ansicht vertritt auch Wildwasser (WW), der Verein gegen Mißbrauch an Mädchen, der sich parteiisch auf die Seite der Opfer stellt und diesen durch Beratung, Aufklärung und auch Selbstverteidigungskurse hilft. In einer mehrseitigen Stellungnahme zu den aktuellen Fällen von Kindermorden zeigen die Mitarbeiterinnen von WW Möglichkeiten der Vorbeugung auf.

Aufklärung tut Not

In der Erziehung von Kindern ist es nach Ansicht von WW wichtig, das Thema der sexuellen Gewalt an Kindern nicht auszuklammern. Vielmehr hilft altersentsprechende Aufklärung dabei, den Kindern die Angst vor etwas zu nehmen, was sie zwangsläufig mitbekommen, aber nicht einordnen können. Teilweise muß den Kindern auch ersteinmal klargemacht werden, daß auch sie selbst davon betroffen sein können, und es sich nicht nur um Verbrechen weit weg - im Fernsehen - handelt. Dabei sollte deutlich gemacht werden, daß es sexuelle Gewalt gibt und daß auch Morde als extreme Form dieser Gewalt stattfinden, diese jedoch sehr selten sind. Panik zu schüren und Ängste der Erwachsenen auf die Kinder zu projezieren ist dabei wenig hilfreich. Eine realistische Einschätzung der Gefahren sollten die Eltern dabei besitzen.

Viel bedeutsamer als die medienwirksamen Todesfälle ist der alltägliche sexuelle Mißbrauch an Kindern, der oft über Jahre hinweg systematisch durchgeführt wird. Um Kinder vor dieser Gefahr zu schützen, muß ersteinmal klar gemacht werden, WAS unter den Begriff der sexuellen Gewalt fällt.

Nicht erst "Sexspiele" oder gar Vergewaltigung gelten als sexuelle Gewalt, jegliche Form des Zwanges stellt Gewalt dar. Dies muß den Kindern bekannt sein und entsprechend vermittelt werden. Dazu gehört eben auch, das "Küßchen für Oma" nicht einzufordern, wenn es das Kind nicht mag. Kinder, die nicht zu solch klassischen Formen des Gehorsams erzogen werden, können einfacher NEIN sagen.

Die meisten Taten geschehen im Familien- und Bekanntenkreis. Deshalb sollten die Eltern den Kindern klarmachen, daß ALLE Menschen, auch die ihnen vertrauten, zu Tätern werden können. Die traditionelle Form der Warnung vor bösen Fremden lenkt dabei vom wahren Täterkreis ab. Das muß nicht bedeuten, daß die Großeltern oder Onkel zu bedrohlichen Wesen gemacht werden. Es soll nur klargemacht werden, daß AUCH SIE zu sexueller Gewalt greifen könnten und jegliche Loyalität in dieser Richtung falsch, ja sogar gefährlich ist. Gerade bei vertrauten Menschen ist es für die Kinder schwierig, sich der Ausnutzung zu erwehren, geschweige denn sich anderen anzuvertrauen. Meist wird der Vertrauensbruch von Seiten der Täter mit der Einforderung des kindlichen Vertrauens zu verbergen versucht ("Das ist unser Geheimnis").

"Hau ab, du blöder Affe!"

Ein starkes Selbstbewußtsein scheint der beste Schutz vor Übergriffen zu sein. Unsichere und ängstliche Kinder stellen die idealen Opfer dar, die sich meist auch danach nicht trauen, darüber mit anderen zu reden und so eine Wiederholung ermöglichen. Bei dem aktuellen Umgang mit den Kindern zu diesem Thema sollte besonders auf die individuelle Ängstlichkeit der Kinder Rücksicht genommen werden. Wenn Mädchen sich zur Zeit nicht trauen, allein irgendwohin zu gehen, so dürfen sie auch dazu nicht gezwungen werden. Umgekehrt ist es unsinnig, furchtlosen Mädchen ihre Freiheiten einzuschränken. Auch hier gilt es, die Gefühle der Kinder zu achten.

Ein zweites wichtiges Mittel der Vorbeugung ist nach Ansicht von WW die Sensibilisierung der Erwachsenen zu dieser Thematik. Wir alle müssen lernen, auch hierzu Position zu beziehen und gegebenenfalls einzugreifen. Schon bei der allgegenwärtigen Werbung, die immer öfter das Bild des unschuldigen Kindes in erotisierender Form benutzt, gibt es die Möglichkeit, zu protestieren.

Sexualaufklärung erleichtert das Reden

Inzwischen ist es schon normal, über die Taten, insbesondere die Kindermorde, informiert zu werden und über die Strafverfolgung zu debattieren. Der sexuelle Mißbrauch und die Bedeutung der familiären Strukturen dabei ist noch immer kein Thema. Hier gilt es, das Tabu zu durchbrechen. Eine offene Sexualaufklärung erleichtert es, über eventuelle Übergriffe reden zu können. Aber auch schon das Eingehen auf die eigenen Empfindungen der Kinder macht es ihnen möglich, auf diese zu achten, sie ernst zu nehmen und sie zu verbalisieren.

Auf politischer Ebene tritt WW für folgende Veränderungen ein: - Abschaffung der Verjährungsfrist bei sexueller Gewalt; bisher beträgt sie 10 Jahre, für Vergewaltigung 20, beginnend mit dem vollendeten 18. Lebensjahr; - Verbesserung der Situation kindlicher Zeugen vor Gericht durch Opferanwälte und eine Prozeßbegleitung; - Strafe UND Therapie für die Täter statt Wahlmöglichkeit; - Berufsverbot für verurteilte Pädagogen (pädophile Menschen ergreifen gerne pädagogische Berufe); - "täterspezifische Prävention" für auffällig gewordene Jungen; - Therapiefinanzierung für betroffene Frauen.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sexuelle Gewalt ein gesellschaftliches Problem ist, das sich weder durch Therapien noch Haftstrafen allein aus der welt schaffen läßt. Elementare gesellschaftliche Veränderungen sind erforderlich, um sexuellen Mißbrauch zu verhindern!

CH


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