Oldenburger STACHEL Ausgabe 9/97      Seite 18
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Anarchie in der Kaiserstraße

25 Jahre Graswurzelrevolution - für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft

Seit zwei Jahren wird sie nun in Oldenburg produziert - die gewaltfrei-anarchistische Zeitung Graswurzelrevolution. Doch die Geschichte dieses Projektes ist wesentlich älter: im Sommer 1972 erschien in Augsburg die Nullnummer. Ein kleiner Rückblick in die Geschichte dieses selbstverwalteten Zeitungsprojektes.

Bereits in den 50er und 60er Jahren gab es einige wenige Gruppen, die sich mit gewaltfreier Aktion oder Sozialer Verteidigung beschäftigten und sowohl zu marxistischen Konzepten der Gesellschaftsveränderung als auch zu bürgerlichen Refomkonzeptionen Alternativen zu entwickeln versuchten. Doch erst 1968 bildeten sich aus den Einflüssen der StudentInnen-, SchülerInnen- und Lehrlingsbewegung und unter Berufung auf Aktionsbeispiele der indischen Unabhängigkeitsbewegung um M.K. Gandhi, der US-amerikanischen schwarzen Emanzipationsbewegung um M.L. King und der deutsch-niederländischen Traditionen des gewaltfreien Anarchismus (Bart de Ligt, Gustav Landauer, Clara Wichmann) gewaltfreie Aktionsgruppen in der BRD heraus. Ihre ersten Aktionen waren die transnationale Unterstützung spanischer Kriegsdienstverweigerer unter Franco. Wesentlich für die inhaltliche Ausrichtung waren zudem Kontakte zur antimilitaristischen Internationale "War Resisters' International", die zu dieser Zeit das Konzept gewaltfreie Revolution diskutierte, sowie zur französischen Zeitung "Anarchisme et Nonviolence". Aus dem Bedürfnis überregionalen Austauschs gewaltfreier Aktionsgruppen in der BRD entstand 1972 die Zeitung "Graswurzelrevolution", die seither über gewaltfreie Aktion im In- und Ausland sowie über Theorie des gewaltfreien Anarchismus und der gewaltfreien Revolution berichtet.

Obwohl das Konzept Graswurzelrevolution einen gesamtgesellschaftlichen Anspruch hat und in der Zeitung immer wieder über alle gesellschaftlichen Themen und Bereiche berichtet wurde (gewaltfreie und libertäre Bildungsprojekte, Alternative Ökonomie, Sexismus, Antisemitismus, Rassismus usw.) haben sich im Laufe der Zeit und bedingt durch die Praxis gewaltfreier Aktionsgruppen Schwerpunkte in den Bereichen Ökologie und Antimilitarismus herauskristallisiert. Gewaltfreie Aktionsgruppen kooperierten 1974 mit den badisch-elsässischen BürgerInneninitiativen bei der Vorbereitung der ersten Besetzung eines geplanten AKWs in Wyhl und übten auch danach immer wieder Einfluß auf Entstehung und Entwicklung der Anti-AKW- und der Ökologiebewegung aus. An vielen Brennpunkten sozialer Kämpfe der Bonner Republik beteiligten sich GraswurzelrevolutionärInnen maßgeblich, zum Beispiel an der Vorbereitung der Besetzung des Bohrlochs 1004 in Gorleben, aus der im Jahre 1980 die "Republik Freies Wendland" hervorging. Die direkten gewaltfreien Aktionen gegen die Castor-Transporte nach Gorleben sind bis heute ein Schwerpunkt der Aktivitäten und Berichterstattung in der Zeitung.

Während der 80er Jahre versuchten gewaltfreie Aktionsgruppen der westdeutschen Friedensbewegung durch Blockaden, Manöverstörungen, gewaltfreie Sachbeschädigung und eine Verweigerungskampagne eine antimilitaristische Perspektive zu eröffnen. Zwar muß dieser Versuch insgesamt als gescheitert gewertet werden, doch gelang es in dieser Zeit, Begriff und Konzept des zivilen Ungehorsams so zu verbreiten, daß es etwa bei den Boykotts der Volkszählung in den 80er Jahren und auch später wie selbstverständlich angewandt wurde. Zur unabhängigen Friedensbewegung in der DDR bestanden solidarische Kontakte, die auch nach 1989 nicht abrissen und sich heute im Wittstocker Widerstand gegen die Bundeswehr dokumentieren. Die GraswurzelrevolutionärInnen begrüßten den Sturz des Honecker-Regimes, jedoch wurde der nachfolgende Vereinigungsnationalismus kritisch hinterfragt. Schon während des Golfkrieges wandten sich GraswurzelrevolutionärInnen angesichts des drohenden ersten Bundeswehr-Kampfeinsatzes gegen die Militarisierung der deutschen Außenpolitik. In jüngster Zeit führte die Tradition der Unterstützung von Kriegsdienst- und Totalverweigerern die GraswurzelrevolutionärInnen zur Solidaritätsarbeit für Flüchtlinge und Deserteure aus Bürgerkriegsgebieten wie Armenien oder Ex-Jugoslawien und zur Zusammenarbeit mit der entstehenden antimilitaristischen Bewegung in der Türkei.

Wie viele AktivistInnen bei den unterschiedlichsten gewaltfreien Aktionen mußte sich auch die Zeitung "Graswurzelrevolution" immer wieder mit Maßnahmen staatlicher Repression auseinandersetzen. 1977 wurde der Göttinger Mescalero-Text, eine kritische Auseinandersetzung mit der RAF, von einem Graswurzelrevolutionär mitherausgegeben, die folgende Repression führte zu einer umfangreichen und grundsätzlichen "Politischen Erklärung gewaltfreier Aktionsgruppen in der BRD zu Terrorismus und Repression" (GWR 37). 1987 wurde ein Verfahren gegen eine Ausgabe eingeleitet, in welcher das Umsägen von Strommasten im Rahmen der Wackersdorf- und Nach-Tschernobyl-Aktivitäten als gewaltfreie Aktion begründet wurde (GWR 110). Während des Golfkrieges 1991 wurde die Redaktion wegen eines Aufrufs zur Blockade von Rekrutenzügen der Bundeswehr durchsucht (GWR 154). Diesen Sommer führte eine Beleidigungsklage des Schriftstellers Lothar-Günter Buchheim gegen eine antisexistische und antifaschistische Analyse eines seiner Bücher zu einer weiteren Durchsuchungsaktion (GWR 216).

Durch die Praxis der GraswurzelrevolutionärInnen, die Berichterstattung und Versuche der theoretischen Fundierung der gewaltfreien Revolution in der Zeitung wurden gewaltfreie Aktionen und ziviler Ungehorsam weit über den engeren Rahmen des gewaltfreien Anarchismus in der BRD hinaus verbreitet. Auch nach Gründung und Etablierung der Grünen hielten die GraswurzelrevolutionärInnen an ihrer parteiunabhängigen, antiparlamentarischen und anarchistischen Ausrichtung fest. Die Zeitung ist wie zu ihren Anfängen selbstverwaltet, wird weitgehend ehrenamtlich produziert und kollektiv herausgegeben. Die Auflage der Zeitung beträgt derzeit 4.000 Exemplare.

In Oldenburg reicht die jüngere Geschichte der Graswurzelrevolution auch schon sechs Jahre zurück. Im Herbst 1991 bildete sich der "AK Teststrecke", der zunächst gegen die Mercedes-Teststrecke in Papenburg arbeitete, sich aber langsam zu einer gewaltfreien Aktionsgruppe wandelte und dem auch mit der Umbenennung in "Graswurzelgruppe Oldenburg" im Herbst 1994 öffentlich Ausdruck gab. Auch wenn die Gruppe von der Zeitung unabhängig arbeitet, so gibt es doch inhaltliche und personelle Überschneidungen zur Redaktion der Graswurzelrevolution, die seit zwei Jahren ihren Sitz in Oldenburg hat.

Andreas Speck & Bruno Weil

Kontakt: Redaktion Graswurzelrevolution, Kaiserstraße 24, 26122 Oldenburg, Tel.: 0441/2489663, Fax: 0441/2489661, email: GWR-Redaktion@OLN.comlink.apc.org, internet: http://www.comlink.de/ßgraswurzel

oder: Graswurzelgruppe Oldenburg, Alteneschstraße 15, 26135 Oldenburg, Tel.: 0441/17436

aus Anlaß von 25 Jahren Graswurzelrevolution

Anarchistischer Herbst 1997

10.-12.10.97, Alte Feuerwache in Köln

Programm:

Freitag, 10.10.

20 Uhr Eröffnung und Einleitungsreferat: Redaktion GWR: Herausforderungen an den gewaltfreien Anarchismus am Ende des 20. Jahrhunderts.

Samstag, 11.10.

Arbeitsgruppen:

- Anarchismus und Soziale Frage

- Feminismus und Staat

- Anarchismus und Popkultur/Kunst

- Herausforderung Neue Technologien

- Kommunalismus/Transnationalismus oder Agenda 21?

- Libertäre und Macht der Medien

Die Arbeitsgruppen können bei Bedarf aufgeteilt und bei Interesse am Samstagabend oder Sonntag fortgesetzt werden.

Außerdem:

Workshops: Geschichte der Graswurzelbewegung, Movement-Action-Plan. Weitere Workshops sind nach Vereinbarung, auch kurzfristig, möglich.

Sonntag, 12.10.

Ab 9.30 Uhr Statements internationale libertärer Gäste (jeweils maximal 30 Minuten) zum Thema: "Herausforderungen und Antworten gewaltfreier und anarchistischer Bewegungen in anderen Sprachräumen" mit:

Marianne Enckell, Lausanne, Claire Auzias, Paris, Rudolf de Jong, Amsterdam, Michael Randle, London.

13.30-16 Uhr: Diskussion im Plenum und/oder Arbeitsgruppen über internationale anarchistische Bewegung

Samstag und Sonntag organisieren wir tagsüber ein Kinderprogramm/Kinderbetreuung.

Anmeldung

Kosten (Vollverpflegung) je nach sozialen Verhältnissen 70,-/100,-/130,- DM.

Uebernachtung entweder privat (Schlafplatzbörse, den Wunsch nach einem Bett bitte frühzeitig angeben) oder in einer Gemeinschaftsunterkunft (Schlafsack bitte mitbringen).

Anmeldung ab sofort, spätestens bis 20.9. (weg

Redaktion Graswurzelrevolution, Kaiserstraße 24, 26122 Oldenburg, Tel.: 0441/2489663


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Nachdruck nur mit Quellenangabe, Belegexemplar erbeten.


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