Oldenburger STACHEL Ausgabe 4/00      Seite 12
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Radio-Frequenzen für Oldenburg

Und Harald wurde doch abgeholt


Anmerkung aus der Redaktion

Mit Bestürzung mußten wir feststellen, welche Emotionen im Umfeld dieses Textes entstanden. Auf der Redaktion inzwischen bekannte Einzelheiten der Vorgeschichte möchten wir nicht eingehen.

Wir finden es sehr schade, daß ein Redaktionsmitglied nicht rechtzeitig das Gespräch gesucht und auch andere Möglichkeiten der Verständigung nicht wahrgenommen hat, um Mißverständnisse frühzeitig zu vermeiden. Mindestens so bedauerlich finden wir es, daß der Autor dieses Leserbriefes darauf bestanden hat, diese Fehler eines Redaktionsmitgliedes auf diese Art im Stachel öffentlich zu machen. Wir hätten erwartet, daß es möglich wäre, nun endlich in einen konstruktiven Dialog zu treten, nachdem allen Beteiligten und dem Rest der Redaktion die Hintergründe klar sind. Wir hoffen, daß es zukünftig möglich sein wird.

Wir freuen uns, zu lesen, daß der Stachel als Gegenöffentlichkeit ernstgenommen wird, weil hier Tatsachen und Meinungen abgedruckt werden können, die sonst unpopulär sind. Wir möchten aber auch darauf hinweisen, daß beide, Gerold und Achim, über lange Jahre maßgeblich dazu beigetragen haben. An dem vorliegenden Text hat sich einmal mehr gezeigt, daß diese Arbeit nicht einfach ist.

Marco, Hilko, Michael und Jan


Und Harald wurde doch abgeholt

Es war tatsächlich nur "(fast ein) Leserbrief", den Achim - nach meiner Kenntnis zwar Redaktionsmitglied, jedoch nicht ALS Redaktionsmitglied - zu meinem Artikel im Januar verfaßte.

Nach der dort wiedergegebenen Meinung war die Abholung Haralds nur ein bedauerlicher Einzel"fall". Nach meiner Auffassung ist es mit der Freiheit vorbei, wenn das erste Glied der Kette geschmiedet ist. Wenn die Behandlung Haralds ein Einzel"fall" war, dann gibt es 80 Millionen Einzel"fälle" in der Bundesrepublik. In vielfältiger Weise sind wir alle und immerdar Einzel"fälle". Zumindestens vor der Steuer und dem Sensenmann ist das so.

Verständnis statt Verwaltung

Was heißt überhaupt "Fall"? Geht es nicht um Menschen? Hat hier vielleicht jemand bereits die Kategorien der Verwaltung von "Menschenfällen" übernommen? Überhaupt ist die Mitteilung Achims von Unkenntnis gefüllt. So führt z.B. die Kontrolle von Betreuungen nicht das Gesundheitsamt, sondern das Amtsgericht durch. Ich fände es schön, wenn die (behaupteten) zwei Personen, die "in der Altenpflege tätig sind und behinderte sowie süchtige Menschen betreuen" - oder nicht vielmehr pflegen? - zukünftig etwas deutlicher zwischen Pflege und Betreuung unterschieden. Meine Zeilen bezogen sich auf eine Betreuung nach dem "Betreuungsgesetz".

Menschlichkeit im LKH unbekannt? (Stachel 9/99)

Tatsächlich habe ich nicht über die "Normalität" in der Betreuung oder in der Psychiatrie berichtet. Es lag und liegt mir fern, solches zu tun. Doch wer in den vergangenen Monaten und sogar Jahren den Oldenburger Stachel aufmerksam gelesen hat, wird immer wieder auf Zeilen gestossen sein, in denen von widerwärtiger Behandlung von Menschen seitens beteiligter Institutionen berichtet wurde. Da war z.B. die Frau, die im Landeskrankenhaus LKH äußerst gleichgültig behandelt wurde (Stachel 3/98). Oder der Mann, dem das Essen aus "pädagogischen" Gründen verweigert wurde (Stachel 9/99).

Will wirklich niemand die völlige Entwurzelung?

Dieser dauerhaft einsitzende Mann sollte übrigens IM LKH eine Zwangsbetreuung für den medizinischen Bereich verpaßt bekommen. Er war im LKH und bekam als einer der Wenigen dort keine Neuroleptika. Bin ich tatsächlich zu negativ eingestellt, wenn ich vermute, daß schon eine betreuende Person gefunden worden wäre, die einer Behandlung mit Neuroleptika zugestimmt hätte? Er hat sich dieser Zwangsbetreuung 15 Monate durch Flucht entzogen. Während dieser Zeit hat er gearbeitet, seine Wohnung und seinen Freundeskreis aufrecht erhalten sowie freiwillig sich einer Psychotherapie unterzogen. Es bestand die Möglichkeit einer Berufsausbildung. Als er wieder eingefangen wurde, beantragte er die Überprüfung seines "Falls". Die Staatsanwaltschaft war bereit, dieses ein Jahr später auch zu tun. (Das entsprechende Schreiben liegt mir vor.) Die Wohnung und die Ausbildungsmöglichkeit wären bis dahin weg gewesen! Leider gibt es noch viel mehr solche "Fälle". Doch in der Regel läßt sich so etwas nicht so gut nachweisen.

Vom "großen Nutzen des Stachel"

Doch selbst wenn sich so etwas nachweisen läßt, ist nicht klar, ob die Öffentlichkeit auch davon Kenntnis erlangen kann. Ein freier Mitarbeiter Radio Bremens konnte dort keinen Beitrag über die Bearbeitungsfristen der Staatsanswaltschaft unterbringen. Bei NDR OLdenburg wurde grünes Licht gegeben. Doch als der Beitrag produziert war, befand sich der zusagende Redakteur gerade in Urlaub und das Stück aus dem Tollhaus wurde nicht gesendet. Muß ich an dieser Stelle noch erwähnen, daß dieser mir bekannte Redakteur äußerte, daß der große Nutzen des Stachels sei, Dinge veröffentlichen zu können, die in - fast - allen anderen Medien untergehen?

Stigmatisierung und Eigenverantwortung?

Zurück zum abgeholten Harald: Vielleicht ist Harald ja tatsächlich ein Einzel"fall". Doch waren nicht tatsächlich viele Personen daran beteiligt? Ich schrieb darüber, daß er vergeblich bei Beratungstellen in Oldenburg gewesen ist. Warum bekam er keine Unterstützung? Weil er bereits bekannt war und als hoffnungsloser "Fall" stigmatisiert? Dann möchte ich zur dringenden Lektüre Hans Falladas "Wer einmal aus dem Blechnapf frißt" empfehlen. Hat denn niemand gesehen, wie Haralds mehr und mehr in die Enge gedrängt wurde? Ist dabei noch wichtig, daß er natürlich auch eigene Beiträge dazu geleistet hat?

Schöne einfache Welt: Aufgeteilt in gut und böse

Auch habe ich den Beteiligten Personen keine "böse Absicht" unterstellt. Mir ist unklar, an welcher Stelle dieser Eindruck entstanden sein soll. Ich möchte darauf hinweisen, daß ich an den Empfindungen der LeserInnen allenfalls beteiligt bin. Da jedoch unbekannte Menschen als "Beweise" für angeblich von mir suggerierte Zielsetzungen der beteiligten MenschenbehandlerInnen angeführt werden, möchte ich hier mitteilen, daß ich mehrfach angesprochen wurde, daß meine Zeilen über die Vorgänge in der Psychiatrie und das Räderwerk der Sozialbehörden noch viel zu harmlos gewesen seien.

Sozialamt soll helfen und nicht gefährden

Immerhin soll das Sozialamt von seiner Zweckbestimmung eine Einrichtung der Hilfe sein, um ein menschenwürdiges Leben in diesem Land zu ermöglichen. Im dokumentierten "Fall" war es Glied im übergreifenden Machtmißbrauch. Doch der Stadtkämmerer darf sich freuen. Denn wer solche Behandlung erfahren hat oder befürchtet, wird sich dreimal überlegen, einen berechtigten und begründeten Antrag auf soziale Unterstützung zu stellen. Die Sozialhilfe-Behörde wird so zur Sozialspar- und zur Sozialkontroll-Behörde. Mir ist durch die Behandlung Haralds klarer geworden, warum eine 75-jährige Witwe lieber zehn Jahre von 380 - 420 DM monatlich lebte, als sich helfen zu lassen. Nach den mir vorliegenden Unterlagen wurde ihre Rente kurz vor ihrem Tod noch auf 400,-DM gekürzt. Sieht so falscher Stolz aus?

Weihnachten mit Depressionen in dunkler Wohnung

Es mag ja sein, daß das Gesundheitsamt bei Kritik am Betreuer ein offenes Ohr hat. Harald ist sich seiner Rechte durchaus bewußt. So hat er Widerspruch eingelegt. Wie berichtet wurde, hat ihn das LKH nach Körperverletzung durch unbegründete Zwangsmedikation mit Neuroleptika vor Weihnachten entlassen. Harald kam als depressiv betrachteter Mensch nach drastisch auf Null reduzierter Medikamentengabe (die werden üblicherweise "ausgeschlichen") über Weihnachten in die dunkle Wohnung ohne Strom. Das war äallenü Beteiligten klar!

Gerichtsprotokoll belegt: Betreuung nicht korrekt

Gegen die Betreuung legte er ebenfalls Widerspruch ein. Doch das zuständige Amtsgericht hat einer Beschwerde Haralds nicht entsprochen. Das Verhandlungsprotokoll weist aus, daß der für die Finanzen zuständige Betreuer zugab, nicht zu wissen, wieviel für wen das Sozialamt Geld zurückhält. Der Betreuer weiß also nicht, wieviel Geld Harald zum Leben bleibt. Trotzdem hält er den status quo für korrekt.

Das "geflegte Verfahren"

Der juristische Verfahrenspfleger hat es vor der Verhandlung nicht für nötig gehalten, ein Gespräch mit Harald zu führen. Das Verhandlungsprotokoll weist aus, daß er aus Kenntnis der Aktenlage (!) einer weiteren Betreuung durch diesen Betreuer zustimmt.

Böse, böse...?

In diesem Sinne beschloß das Gericht. Was sollte daran böse sein? Sicher ist aber, daß mensch Harald kennenlernen sollte. Nach wenigen Momenten wäre klar, daß es sich hier nicht um einen "Pflege""fall" handelt. Harald ist klar im Kopf, wenn auch - für mich verständlich - manchmal von diesen Vorgängen überfordert. Überdies wird Harald von den einen für arbeitsfähig gehalten - die anderen, so auch der kritisierte Betreuer, wollen ihn in ein Heim stecken. Während der Betreuer davon spricht, den status quo aufrecht erhalten zu wollen, betreibt er hintenherum die Zwangseinweisung. Die entsprechenden Unterlagen liegen vor. Wie das Gericht in dieser Angelegenheit entscheiden wird, läßt sich ahnen.

Fürwahr unglaublich, aber wahr

Ich möchte selbst nicht glauben, was ich hier zum wiederholten Male im Zusammenhang von Sozialarbeit und Psychiatrie erlebt habe. Um so schwerer muß es sein für Personen, die sich selbst diesem Berufsfeld zugehörig fühlen. Doch ich finde es müßig, wenn darauf hingewiesen wird, daß "die Beschäftigten im Pflegebereich unter einem enormen Druck stehen". Stimmt es also doch, was ich berichtete, nur geschah es nicht aus Boshaftigkeit, wie ich unterstellt und "suggeriert" haben soll? Wer so argumentiert, sollte nicht vergessen, daß er bzw. sie von diesen betreuten bzw. gepflegten Menschen lebt. Ein bißchen Engagement für anvertraute Personen kann nicht schaden. Sonst wird das Vertrauen mißbraucht. Keinesfalls - auch nicht ein einziges Mal in "einem schrecklichen Fall" - dürfen Menschen so behandelt werden, weil "mal" jemand überarbeitet ist.

Gerold Korbus

P.S.: Wer kein Stachel-Archiv zuhause hat (ts, ts, d.S.), klicke unter http://www.stachel.de/ ins elektronische Stachel-Archiv, frage bei den Oldenburger Bibliotheken nach der gewünschten Ausgabe oder bei der Redaktion.

 

 
  Differenzen zur gedruckten Fassung nicht auszuschließen. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Siehe auch Impressum dieser Ausgabe und Haupt-Impressum