Oldenburger STACHEL Ausgabe 2/02      Seite 16
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Auf dem Weg zu einem Zentrum für selbstbestimmtes Leben

Am 7.2.2002 hat ein gut besuchter Themenabend des Autonomen Referates für behinderte und chronisch kranke Studierende den Weg zu einem Zentrum für selbstbestimmtes Leben aufgezeigt.

Der Abend trug den Titel: "Die Kunst einer selbstbestimmten Lebensführung" und wurde von drei Referenten gestaltet. Da die Referenten selbst behindert sind und der bundesweiten Bewegung angehören, konnte das Thema authentisch mit Leben gefüllt werden. Ursprünglich sollte der Hauptreferent Uwe Frewert aus Kassel sein, der jedoch krankheitsbedingt absagen mußte. Sein Beitrag wurde ersetzt durch drei Vorträge: Die Geschichte der emanzipatorischen Behindertenbewegung in Deutschland, Persönliche Assistenz in Form eines Arbeitgebermodells, Gedanken zur Integration und Kultur Behinderter sowie zur Bioethik. Im einzelnen referierten Boris Pericic (Autonomes Behindertenreferat), Christan Judith aus Hamburg (Bioethik Sprecher von Selbstbestimmt Leben, Mitinitiator der Namensänderung von Aktion Mensch sowie Mitarbeiter in verschiedenen Kultur-Projekten zum Thema Behinderung) und Wiebke Hendeß (Behindertenbeauftragte im Studentenwerk Oldenburg).

Die einzelnen Beiträge wurden im teilweise sehr kontrovers diskutiert. Häufig ging es um das Thema "Ausgrenzung von Nichtbehinderten". Diese Diskussion ging auch noch bis spät am Abend in anderen Räumlichkeiten weiter.

Dieses Thema hat auch bei AGold (AssistenzGemeinschaft Oldenburg - gemeinnütziger Verein zur Förderung selbstbestimmten Lebens für Menschen mit Behinderung) schon zu vielen Diskussionen geführt. Wie es letztendlich mit AGOLD weitergeht und ob es sich zu einem Zentrum für selbstbestimmtes Leben weiterentwickeln kann, soll das nächste Treffen am 19.02. um 16.30 Uhr in der Bekos zeigen.

Bekos (Beratungs- und Koordinierungsstelle für Selbsthilfegruppen e. V.) Lindenstr. 12, 26123 Oldenburg, Tel: 04 41/88 48 48, Fax: 04 41/88 34 44

Interessierte sind herzlich eingeladen, sich an dieser Diskussion zu beteiligen. Sie erreichen uns telefonisch unter 04 41/21 71 98 98 (AB)

Um den Begriff "Zentrum für Selbstbestimmtes Leben" zu erläutern, wird im folgenden in Grundzügen das Eingangsreferat über die inzwischen 40 jährige Geschichte der emanzipatorischen Behindertenbewegung in Deutschland sowie die Grundsätze der Selbstbestimmt Leben Bewegung wiedergegeben.

Geschichtliches

Nachdem sich in den 60er-Jahren Elternverbände organisiert haben und Clubs Behinderter und seiner Freunde gegründet haben, kamen 1974 die ersten konkreten Protestaktionen ins Rollen. Ende der 70er entstanden die ersten sog. Krüppelgruppen. Den ersten Höhepunkt der bildeten die Proteste gegen die Ausgestaltung des UNO-Jahres der Behinderten 1981, die ihren Abschluß im sog. Krüppeltribunal fanden. Auf diesem Tribunal wurden Menschenrechtsverletzungen gegen Behinderte angeprangert. Mitte der 80er wurde das erste Zentrum für selbstbestimmtes Leben in Bremen gegründet. Ihm folgten weitere Zentren bis schließlich 1990 der Dachverband Interessengemeinschaft für Selbstbestimmtes Leben ISL e. V. gegründet wurde. Inzwischen gibt es schon 29 Zentren für selbstbestimmtes Leben.

Grundsätze von ISL

1. Anti-Diskriminierung und Gleichstellung Behinderter

2. Entmedizinisierung von Behinderung

3. Nicht-Aussonderung und größtmögliche Integration in das Leben der Gemeinde

4. Größtmögliche Kontrolle über die eigenen Organisationen

5. Größtmögliche Kontrolle über die Dienstleistungen für Behinderte durch Behinderte

6. Peer Counseling und Peer Support als Schlüssel zur Ermächtigung Behinderter

Größtmögliche Kontrolle
über die eigenen Organisationen

Mit dem Bewußtsein, daß Behinderung vorrangig eine politische Frage ist, kann es nicht länger angehen, daß die meisten Behindertenorganisationen vorrangig von Nichtbehinderten betrieben (d.h. kontrolliert), geprägt und nach außen vertreten werden. Sämtliche Mitgliedsorganisationen von ISL werden entscheidend von behinderten Menschen beeinflußt. Entsprechend wird in diesen Organisationen nur behinderten Mitgliedern das aktive Stimmrecht zugebilligt - Nichtbehinderte können Fördermitglieder mit Mitspracherecht werden.

Größtmögliche Kontrolle
der Dienstleistungen
für Behinderte durch Behinderte

Von den sog. "Klienten" und "Patienten" wird in der Regel verlangt, daß sie ihre Bedürfnisse den Arbeitsplänen und organisatorischen Zwängen der Mitarbeiter anpassen, anstatt daß die Dienstleistungen so konzipiert werden, daß sie sich den Bedürfnissen der behinderten Leistungsempfänger anpassen und diese als "KundInnen" betrachtet werden. In keinem anderen Dienstleistungsbereich hat der Kunde einen so niedrigen Status, wie in der Behindertenarbeit. Deshalb fordert die Selbstbestimmt Leben Bewegung im Bereich der Pflege eine radikale Abkehr von der traditionellen Betreuung hin zur Förderung und Finanzierung der eigenverantwortlichen Organisation der persönlichen Assistenz, bei der behinderte Personen ihre AssistentInnen (Pflegekräfte) im Haushalt anstellen, anlernen, den Dienstplan gestalten, die Entlohnung regeln und zur Not auch kündigen.

Peer Counseling und Peer Support als Schlüssel zur Ermächtigung Behinderter Peer Counseling (Betroffene beraten Betroffene) ist eine von behinderten Beratern geleistete Tätigkeit, wobei der Agierende über eigene behinderungsspezifische Erfahrungen, Fertigkeiten und über Wissen verfügt, um anderen behinderten Menschen und mitbetroffenen Personen behilflich zu sein. Dabei fungieren die BeraterInnen, die einen selbstbestimmten Lebensstil praktizieren, in der Regel als positive Rollenvorbilder, die anderen behinderten Bürgern signalisieren, daß es möglich ist, eigenständiger zu leben und Veränderungen vorzunehmen und sie aufbauend auf ihren eigenen Erfahrungen auf dem oftmals steinigen Weg zur Selbstbestimmung unterstützen.

Wiebke Hendeß

 

 
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