Oldenburger STACHEL Nr. 247 / Ausgabe 4/05      Seite 7
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Die Fratze des Sozialstaates

Skandalöses Antragsverfahren auf ALG II

Wer bei der Arbeitsgemeinschaft Oldenburg (ARGE) Arbeitslosengeld II (ALG II) beantragen muß, benötigt gute Rechtskenntnisse und besonders viel Selbstvertrauen. Denn das Verfahren bis zur Leistungsgewährung ist ein Skandal und scheint allein der Abschreckung zu dienen. Die Betroffenen werden einem weitgehend schikanösen, in Teilen gesetzeswidrigen und im Ganzen unwürdigen Verfahren ausgesetzt. Nur wer dieses durchhält, bekommt am Ende sein Geld, alle anderen gehen leer aus. Die Fratze des neu(re-)formierten Sozialstaates zeigt sich unverhüllt.

Wer einen Antrag auf ALG II stellt, erhält zunächst einmal einen Termin zur Abgabe der ausgefüllten Formulare und notwendigen Unterlagen. Und das in der Regel erst zwei bis drei Wochen später. So müssen Betroffene häufiger längere Zeit ohne Geld auskommen, da sie keine Reserven mehr haben: Die akute Notlage! Bei der ARGE offensichtlich unbekannt! Sollen die Betroffenen hungern, Schulden machen oder betteln gehen? Vermutlich. Und statt einer Soforthilfe erhalten Betroffene, die einen Vorschuß benötigen, oft erniedrigende und arrogante Antworten: "Überziehen sie doch ihr Konto!" oder "Haben sie denn keine Freunde?"

Grundsätzlich ist zu fragen, weshalb ein Termin überhaupt erforderlich sein soll? Persönlich haben sich die Betroffenen bereits bei der Antragstellung vorgestellt und ausgewiesen. Es reicht also eigentlich aus, die ausgefüllten Antragsunterlagen per Post bei der ARGE einzureichen, wie es bei vielen andern Ämtern üblich ist. Aber! Ein erneuter persönlicher Termin stellt auch eine neue Hürde dar. Und die werden bekanntermaßen nicht alle Betroffenen bewältigen.

Zusätzlich zum Antragsformular der ARGE, welches im Übrigen immer noch sachlich falsch und datenschutzrechtlich nicht in Ordnung ist, erhalten die Betroffenen einen "Laufzettel", auf dem diverse Unterlagen gefordert werden, die für die Bearbeitung des Antrags erforderlich sein sollen.

Hier werden bewußt Daten abgefragt bzw. Unterlagen gefordert, die für die Antragstellung vollkommen unerheblich sind. So wird regelmäßig die Adresse der Eltern erfragt, obwohl gesetzlich geregelt ist, daß Eltern nur für unter 25jährige ohne Ausbildung unterhaltspflichtig sind. Regelmäßig wird ein vierseitiges Zusatzblatt zum Vermögen verlangt, obwohl die Betroffenen im Hauptbogen die notwendigen Angaben bereits gemacht haben und hier darauf hingewiesen werden die Zusatzblätter nicht auszufüllen. Betroffene, die zur Untermiete wohnen, müssen zusätzlich zum Untermietvertrag eine "Gestattung des Vermieters zur Untervermietung" abgeben. Wo beginnt eigentlich die Entmündigung?

Standardmäßig werden die Kontoauszüge der letzten drei Monate verlangt. Diese Pauschalabfrage als Standard ist rechtswidrig und nur im Einzelfall erlaubt, wenn konkrete Verdachtsmomente auf Sozialmißbrauch vorliegen. Der ALG-II-Antragsteller per se ein Leistungsmißbraucher?

Regelmäßig werden zudem Unterlagen gefordert, die sich mit der Zeit vor der Antragstellung befassen. Wie und wovon die Betroffenen vor Antragstellung gelebt haben, ist für die Antragstellung aber völlig unerheblich.

Wirklich wichtige Fragen werden dagegen nicht gestellt. Haben die Betroffenen noch zu Essen oder brauchen sie andere Soforthilfe? Haben sie Mietschulden?

Immer wieder werden Betroffene aufgefordert, Unterlagen beizubringen, die der ARGE schon längst vorliegen. So wurde beispielsweise eine Schülerin aufgefordert das vollständig ausgefüllte Antragsformular einzureichen. Sie erhielt diese schriftliche Aufforderung persönlich ausgehändigt von dem Sachbearbeiter, der Sekunden vorher das von ihr ausgefüllte Antragsformular unbesehen entgegen genommen hatte.

Häufiger werden auch Unterlagen gefordert, die gar nicht vorgelegt werden können. Krassestes Beispiel: "Sehr geehrter Herr ..., für das Bearbeiten Ihres Antrages werden folgende Unterlagen benötigt: Mutterpaß....". Allein die Aufforderung zur Vorlage des Mutterpasses ist rechtswidrig und darf aufgrund der darin enthaltenen persönlichen Daten nicht verlangt werden. Dies von einem Mann zu verlangen ist zusätzlich auch noch ignorant: Die Sachbearbeiterin scheint überhaupt nicht mehr zu interessieren, welche "Nummer" sie gerade abschreckt (oder war etwa der Paß der Mutter gemeint?).

Betroffene werden aufgefordert Grundbuchblattabschriften bzw. Katasteramtsauszüge beizubringen, obwohl sie zur Miete wohnen. Sie geben an und belegen, Kindergeld zu beziehen und sollen dennoch die Geburtsurkunde des Kindes vorlegen. Sie belegen den Unterhalt des Ex-Mannes und werden trotzdem aufgefordert, eine Heiratsurkunde vorzulegen. Betroffene erklären sich vermögenslos und sollen trotzdem Vermögensnachweise zu Bausparverträgen, Wertpapieren und Lebensversicherungen erbringen. Wie viele Versicherungen und Banken sollen sie für die Negativbestätigungen anschreiben? Alle? Bundesweit?

Häufig stecken die Betroffenen mit ihrem "Laufzettel" in einer Zwickmühle. Einerseits sind sie durchaus gewillt sich gegen die teilweise rechtswidrigen und schikanösen Anforderungen der ARGE zur Wehr zu setzen. Denn sie fühlen sich herabgesetzt und entwürdigt.

Andererseits sind sie in der Regel auf sofortige Hilfe angewiesen und sehen sich gezwungen einer Auseinandersetzung mit der ARGE aus dem Weg zu gehen. In der Folge kommt diese mit ihrem entwürdigenden Verfahren durch und der neu(re-)formierte "Sozialstaat" etabliert sich weiter. Dies ist nicht allein ein Problem derjenigen, die heute arbeitslos sind oder aber diese Arbeit ausführen (müssen?). Es ist ein gesellschaftliches Problem. ALG II erhalten Menschen, deren Einkommen zum Leben nicht ausreicht, also neben erwerbslosen auch (zum Teil sogar Vollzeit) arbeitende Menschen. Letztlich können wirklich alle Beschäftigten einmal davon betroffen sein, sei es weil die Löhne dank Hartz IV weiter sinken, oder wenn langfristig auch noch das Arbeitslosengeld abgeschafft wird.

Alles lediglich bedauerliche Einzelfälle? Nein, es steckt System dahinter. Der Sozialstaat wird solange reformiert, bis er (zusammen-)bricht. Ein paar weniger Rechte hier, ein paar entwürdigende Maßnahmen dort. Und schließlich bleiben auch Demokratie und Würde mehr und mehr auf der Strecke. Die Erfahrung zeigt, daß es sich lohnt, sich diesem skandalöse Verfahren zu widersetzen. Betroffene, die sich wehrten, erhielten nach nicht all zu langer Zeit ihren Bescheid und ihr Geld, ohne das sie die überflüssigen Unterlagen abgeben mußten.

Wer es sich also "leisten" kann, sei es weil Freunde aushelfen oder es noch finanzielle Polster gibt oder weil die zu erwartende ergänzende Leistung nur sehr gering sein wird, möge sich wehren und nur die Unterlagen abgeben, die für die Bearbeitung des Antrags wirklich erforderlich sind. Hilfe gibt es in der ALSO-Beratung. Alle anderen sind aufgefordert sich über das entwürdigende Antragsverfahren schriftlich bei der ARGE zu beschweren. Damit erneuern wir zwar nicht den Sozialstaat, wenden uns aber gegen den schleichenden Demokratieabbau und behalten unsere Würde.

 

 
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