Oldenburger STACHEL Ausgabe 3/96      Seite 6
 
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"Gott schuf das Meer, der Friese die Küste"

Die unendliche Geschichte vom Kampf des Menschen mit dem Meer- betrachtet im Lichte der Erkenntnisse aus sechs Jahren Ökosystemforschung im Niedersächsischen Wattenmeer.

"Gott schuf das Meer, der Friese die Küste." Dieser etwas anmaßend klingende Satz ist mir noch aus meiner Schulzeit in Erinnerung geblieben. Er stand in unserem Erdkundebuch. Gemeint ist natürlich die Nordseeküste.

Eine andere Geschichte (auch noch aus Schülerzeiten in Erinnerung) versucht die Entstehung von Ebbe und Flut zu erklären:

Als die ersten Ostfriesen an den Gestaden der Nordsee eintrafen, haben sie dem Meer einen solchen Schrecken eingejagt, daß esw sich ganz weit zurückgezogen hat. Und jetzt läuft es zweimal jeden Tag auf, um nachzusehen, ob sie noch da sind.

Aber Spaß beiseite, die unendliche Geschichte vom Kampf des Menschen mit dem Meer läßt sich zurückverfolgen bis zu den Anfängen des Deichbaus an der Nordseeküste. Diese werden von den Geschichtsforschern im 11./12. Jahrhundert angesiedelt, als die immer höher auflaufenden Sturmfluten eine systematische Gefahrenabwehr erforderlich machten.

Dier Geschichte des Deichbaus ist, vor allem im 12., 13. und 14. Jahrhundert, durch verheerende Angriffe des Meeres geprägt worden. So brachte z.B. die Zweite Marcellusflut von 1362, die in die Annalen als "Grote Manndränke" eingegangen ist, den ersten Einbruch des Dollart und eine Erweiterung der Leybucht und des Jadebusens mit sich. Etwa 100 000 Menschen sollen bei dieser Schweren Sturmflut umgekommen sein.

In den folgenden Jahrhunderten wurden die Deichlinien langsam und beharrlich wieder vorverlegt, die Deiche wurden erhöht und schützten das neugewonnene Land vor weiteren Sturmfluten. Rund 6000 Quadratkilometer wurden so dem unmittelbaren Zugriff des Meeres entzogen, das entspricht etwa 12,5% der Fläche des Landes Niedersachsen. Ohne Deiche und Siele würde ein großer Teil dieser Fläche täglich überflutet werden und damit zum Watt gehören. Womit wir beim Thema Wattenmeer angelangt sind.

"Das Wattenmeer ist ein Restökosystem"

sagt Prof. Dr. Thomas Höppner vom Institut für Chemie und Biologie des Meeres an der Universität Oldenburg. Die landseitige Hälfte diese Ökosystems wurde durch die Eindeichungen abgetrennt. Es entstand im Übergangsbereich zwischen Meer und Land eine scharfe Trennlinie, die auf der Landseite die "kulturlandschaft" der Marschgebiete von der "Naturlandschaft" des Wattenmeeres trennt. Dies allein ist der Grund, weshalb das Wattenmeer, wie es immer heißt, eine "einzigartige" Küstenlandschaft darstellt, die auf der Welt ihresgleichen sucht. Denn, das machte der Naturwissenschaftler Höppner bei seinem Vortrag am 22. Februar im Staatlichen Museum für Naturkunde und Vorgeschichte in Oldenburg deutlich, Wattengebiete sind weltweit gesehen ein gar nicht so seltener Ökosystemtyp und sie weisen bei aller Verschiedenheit der natürlichen Gegebenheiten merhr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf. Diese Aussage relativiert natürlich die "Einzigartigkeit" des Lebensraumes vor unseren Deichen.

Das Wattenmeer wird von innerer Dynamik geprägt und ist gleichzeitig relativ stabil.

Bilanz aus sechs Jahren Forschung

Was ist nun die Kernfrage und gleichzeitig die Erkenntnis aus sechs Jahren Ökosystemforschung im Niedersächsischen Wattenmeer? Diese Frage formuliert Professor Höppner so: "Warum ist das (Ökosystem) Wattenmeer so relativ stabil?"

Eine der Erkenntnisse, die aus der Beobachtung der Zustände und Entwicklungen im Untersuchungsgebiet gewonnen werden konnten ist folgende: Trotz bedrohlicher Anzeichen wie Seehundsterben und Vogelsterben, trotz Überdüngung und massenhafter Ausbreitung von Grünalgenmatten, trotz der berüchtigten "schwarzen Flecken" und der zeitweiligen Sauerstoffdefizite ist es anscheinend noch nicht gelungen, dem Ökosystem Wattenmeer den entscheidenden Schlag zu versetzen, der sein Regenerationsvermögen endgültig und unwiederruflich überfordert. "Alles im grünen Bereich" lautet die Botschaft der Wissenschaftler.

Die sog. Schwarzen Flecken, deren Entstehung auf mehrere Ursachen zurückgeführt werden kann (die wichtigste ist die Zersetzung von organischem Material, z.B. Algen, im Wattboden) haben sich zwar ausgebreitet, aber der Anteil an der gesamten Wattfläche ist dabei immer noch ziemlich gering: Gerade einmal 0,2% der untersuchten Wattfläche.

Vor vier, fünf Jahren, als die Zunahme der schwarzen Flecken im Watt durch die Tagespresse ging, hörte sich das alles noch sehr dramatisch an. Von einer jährlichen Verdoppelung der Fläche war da die Rede, und es wurden bereits Spekulationen darüber angestellt, wann denn bei einer Beibehaltung dieser Wachstumsrate das gesamte Watt nur noch ein einziger großer schwarzer Fleck (und damit ohne Leben) sein würde.

Die Katastrophenmeldungen Ende der 80er Jahre alarmierten auch die Fachleute und Politiker und führten zu Forderungen nach Sanierungsmaßnahmen für die Nordsee, die nicht mehr mit den Verunreinigungen durch Klärschlamm, Industrieabfälle, illegal abgelassenes Öl und den Eintrag von Stickstoff und Phosphor als Pflanzennährstoff e über die Flüsse und über die Luft zurechtkam.

Dem Projekt Ökosystemforschung geht (finanziell) die Luft aus.

Die Einsicht, daß nicht nur das Meer den Menschen, sondern auch der Mensch das Meer bedroht, war auch Ansatzpunkt für interdisziplinäre wissenschaftliche Forschung, die unter der Bezeichnung "Ökosystemforschung Wattenmeer" auch mit Bundesmitteln gefördert wurde. Man strebte an, Schutz und Management des Ökosystems Wattenmeer, immerhin mit dem Schutzstatus eines Nationalparks, der höchsten Schutzkategorie, ausgestattet, auf eine fundierte wissenschaftliche Grundlage zu stellen.

Wissenschaftlich ausgedrückt hört sich das so an: "Ziel der Ökosystemforschung Niedersächsisches Wattenmeer ist es, durch Grundlagenforschung die Dynamik und Funktionsweise des Wattenmeeres zu entschlüsseln und durch angewandte Forschung die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf diese Ökosystem zu erfassen und zu bewerten. Erst auf Grundlage dieser Erkenntnisse können angemessene Schutzstrategien entwickelt werden."(Zitat aus: Watt und mehr. Ein Ökosystem seine Erforschung und sein Schutz. Begleitschrift zur Ausstellung im Staatlichen Museum für Naturkunde und Vorgeschichte Oldenburg).

Den Stellenwert, den diese Forschung derzeit genießt, mögen die geneigten Leserinnen und Leser daran ablesen, daß die Finanzierung der letzten, aber entscheidenden Phase des Projektes Ökosystemforschung Niedersächsische s Wattenmeer durch die Bundesregierung in der Luft hängt. Sie soll der Entwicklung der langfristigen Schutz- und Entwicklungskonzept e für den Nationalpark zugute kommen. Den Betrag von 740 000 DM, um die es dabei geht, würden einige Leute als "peanuts" bezeichnen, auch angesichts eines Gesamtvolumens von 50 Millionen DM, die für das gesamte 6-jährige Forschungsprojekt in Niedersachsen und Schleswig-Holstein eingeplant waren.

Aber möglicherweise spielen hier auch noch andere Dinge eine Rolle. Vielleicht ist es abwegig, aber besteht nicht eventuell ein logischer Zusammenhang zwischen dem o.g. Finanzierungsproblem und den Ansichten, die einige Ökosystemforscher auf dem Wattenmeer- Symposium an der Universität Oldenburg freimütig äußerten?

Ausgehend von der Erkenntnis, daß "unser" Wattenmeer nur noch ein Restökosystem (Prof. Thomas Höppner) ist, wurde die Schlußfolgerun g vorgestellt, daß abgeflachte Deiche, die wenigewr als Barriere für die notwendigen Austauschprozesse in der Übergangsregion zwischen Meer und Land wirken, für die langfristige Existenzsicherung des Ökosystems Wattenmeer von entscheidender Bedeutung sein könnten. Ansonsten würde das Wattenmeer mit der Zeit immer "nordseeähnlicher".

Ein heißes Eisen fürwahr, denn der Küstenschutz ist an dewr Nordse e so etwas wie eine heilige Kuh, und die Vorstellung, etwas von dem Land aufzugeben, welches man dem Meer in jahrhundertelangen Kämpfen mühsam abgerungen hat, (und das auch noch frewiwillig!), kommtfür die Küstenbewohner einem Sakrileg gleich. (Und wer weiß, auf was für Ideen diese Ökologen morgen kommen. Wo soll das alles hinführen?).

Es ist noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten.

Das ganze Dilemma der Ökosystemforschung findet seinen Ausdruck in der hintersinnigen Schlagzeile, mit der die Nordwest_Zeitung ihren Bericht über das Symposium (Ausgabe vom 22.Febr.) überschrieb: "Deiche stehen Forschern im Weg."

Wenn so die Entwicklungsvorstellungen der Ökosystemforscher für die Niedersächsische Nordseeküste aussehen, dann steht den Ökologen noch ein langer, harter Kampf für ihre Überzeugungen ins Haus, denn auf der Gegenseite stehen Leute , die sich bisher mit friesischer Beharrlichkeit gegen jeden Zwang behauptet haben, sei es der sog. Naturzwang oder staatliche Verordnungen.

Die unendliche Geschichte vom Kampf desMenschen mit dem Meer wird also weitergehen.

Thomas Günther


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