Oldenburger STACHEL Ausgabe 3/97      Seite 14
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Droht ein Apartheidsystem?

Besatzungsrecht in Israel und Westbank

Am 25.1.97 informierte die Professorin Dr. Smuya Farhat-Naser von der Birzeit- Universität der Westbank im PFL über die aktuelle Situation in Palästina und Israel (siehe Stachel 2/97 Seite 6). Wir drucken im Folgenden einen weiteren Auszug aus ihrem frei gehaltenen Bericht ab, der sich mit dem Alltag und der rechtlichen Situation der PalästinenserInnen in Jerusalem und Westbank auseinandersetzt.

Die Israelis "haben auch phantastische, liberale, soziale und demokratische Gesetze - doch nur zwei Kilometer weiter gibt es die militärischen Besatzungsgesetze. Die einen sind bis an die Zähne bewaffnet - die anderen haben keine Waffen. Ich selbst will keine Waffe. Aber allein, daß die Siedler mit Waffen herumlaufen, ist eine große Gefahr für uns. Unsere Angst bleibt also bestehen. (...) Vielleicht ist das notwendig, für eine gewisse Zeit. Doch diese Zeit muß vorübergehen. Das darf nicht länger so bleiben, sonst entwickelt sich ein Apartheidsystem. Die Folge davon wäre ein schrecklicher Krieg, der für unsere beiden Völker vernichtend sein würde. Es braucht nicht im nächsten Jahr zu sein, es kann in 10 oder in 30 Jahren sein. Wir sind aber verantwortlich für unsere Kinder und die nächste Generation. Wenn wir heute nicht richtig handeln, bringen wir unsere Kinder in eine schreckliche Situation.

Jerusalem: ethnische Säuberung

Genauso schwierig ist es, mitanzusehen, was mit Jerusalem geschieht. Das ist alles anderes als Friedensabsicht, dort wird - systematisch - und als Menschenrechtskämpferi n muß ich es beim Namen nennen - ethnische Säuberung vollzogen. Mit allen Mitteln versucht man, so wenig als möglich an Palästinensern in der Stadt zu behalten. Es gibt genug Gesetze dafür (...). Z.B. in Ost- Jerusalem lebte vor 30 Jahren kein einziger Israeli, heute sind es mehr als 55 %. Nur drei Prozent der Anträge von Palästinensern zum Bauen sind innerhalb von 30 Jahren genehmigt worden. Dazu muß ein Palästinenser allein für die Genehmigung eines Baues oder Ausbaues 15 000 bis 20 000 Dollar bezahlen. Ein Israeli muß dafür keinen Pfennig zahlen. Und wenn ein Palästinenser eine Genehmigung bekommt, dann darf er nur zwei Stockwerke bauen - ein Israeli acht. Das Ostjerusalem wurde um das Achtfache vergrößert bis fast nach Jericho im Osten, bis fast nach Hebron im Süden, und im Norden bis Ramallah. Natürlich war alles palästinensisches Land gewesen. Und hier dürfen nur Israelis bauen. ZigTausende von Wohneinheiten nur für Israelis. Kein einziger Palästinenser darf dort wohnen oder nur daran denken: Ich möchte dort auch eine Wohnung. Das ist einfach unmöglich.

Ein anderes Problem für die Palästinenser in Ost-Jerusalem: Wenn eine Frau aus Jerusalem einen Mann von außerhalb Jerusalems geheiratet hat, vor 18 oder 20 Jahren, dann konnte man für den Mann einen Antrag für eine Jerusalemer Identitätskarte stellen. Er erhielt sie und durfte im Elternhaus der Frau wohnen, auch die Kinder erhielten die Jerusalemer Identitätskarte. Heute müssen diese Leute ihre Identitätskarte abgeben, wenn sie nicht nachweisen können, daß der Großvater vor 1967 in Jerusalem gelebt hat. Die Geburtsurkunde des Großvaters muß vorgelegt werden. Aber welcher Großvater hat eine Geburtsurkunde? Meine Mutter hat keine Geburtsurkunde. Der Priester hatte dies in ein Buch geschrieben, und wir verließen uns darauf. Das war jahrhundertelang unser System für Dokumentation. Nun kam Israel mit einem neuen System, das unser System ungültig macht. Wer mit diesem System nicht zurecht kommt, hat verloren. Wer also die Geburtsurkunde seines Großvaters nicht vorlegen kann, muß rausgehen. Er hat dann nicht mehr den Status eines rechtmäßigen Einwohners von Jerusalem.

Auslandsbesuch - Rückkehr verwirkt

Wir mußten 29 Jahre lang, wenn wir ins Ausland gingen, um zu arbeiten oder zu studieren, jedes Jahr zurückkehren - das betraf die Männer. Wir Frauen brauchten nur alle zwei Jahre zurückzukommen, unm einen Termin einzuhalten, um unser Recht auf Zuhause zu behalten. Ich habe zu Hause eine große Liste mit diesen Daten, weil ich Angst habe, jemand aus der Familie, der gerade im Ausland lebt, könnte den Termin vergessen. Wenn man diesen vergißt, verliert man für immer sein Recht auf Zuhause. Meine drei Brüder haben dies Recht verloren: der eine war im Krankenhaus, der andere machte eine Prüfung, der dritte hatte kein Geld. Wer es vergißt, wird entrechtet und verliert seinen Besitz. Der fällt dann automatisch an den israelischen Staat als ein "Besitz Abwesender".

Ich persönlich habe es geschafft, meine Papiere immer wieder rechtzeitig zu erneuern, auch meine drei Schwestern.

Verschärfte Gesetze

Nun gibt es für die palästinensischen Bewohner von Jerusalem neue Gesetze: Wer in Jerusalem lebt, aber sieben Jahre lang außerhalb der Stadtgrenze von Jerusalem gearbeitet hat, der verliert seine Identitätskarte von Jerusalem. Das ist neu. Das bedeutet, wenn er in Bethlehem, 10 km außerhalb der Stadtgrenze, arbeitet, muß er aus Jerusalem ausziehen. So können Sie sehen, wie schwer alles ist, wie die Stadt Jerusalem einfach zerrissen wird. Ihre Besonderheit wird ihr genommen. Jahrhundertelang lebten hier verschiedene Ethnien, Kulturen, Religionen, die verschiedensten Menschen. Die Stadt war wie ein Mosaik, von vielen geliebt und geheiligt. Was heute geschieht, ist, daß derjenige, der die Macht hat, die anderen beiseite schieb...

Was hier geschieht, ist Religionisierung des Konflikts. Selbst wenn es Israel gelingt, die ganze Altstadt für sich zu gewinnen ... Man braucht nur ins jüdische Viertel zu gehen und zu sehen, wie viele jüdische Fahnen dort gehißt sind, es werden immer mehr ... Immer mehr von unseren Häusern gehen in jüdischen Besitz über. Selbst wenn wir als Palästinenser kapitulieren sollten, wenn wir kein Wort mehr zu sagen hätten: der Konflikt um Jerusalem wird mehr und mehr zu einem regionalen Krieg, einem Weltkrieg. Die ganze moslemische Welt hat Anspruch auf Jerusalem. Es geht nicht, daß nur eine Seite die Stadt beansprucht. Sie gehört uns allen. Ob es die Religion oder die Kultur betrifft, oder den nationalen und politischen Standpunkt, egal was, es ist unhsere Stadt. Doch wir dürfen seit Jahren Jerusalem nicht betreten. Bis vor einem Jahr mußten wir einen Antrag stellen, um nach Jerusalem gehen zu dürfen. Jetzt dürfen wir nicht einmal mehr einen Antrag stellen.

800 $ Strafe für Nachbarbesuch

Stellen Sie sich vor, vor kurzem wurde in der Grabeskirche nach zehnjähriger Renovierung international gefeiert - die Christen kamen aus der ganzen Welt und feierten, und wir Christen aus dem Land, wir durften nicht dabei sein, bis heute nicht. Wenn ich trotzdem nach Jerusalem fahre, schmuggle ich mich über Seitenwege durch und riskiere, falls ich erwischt werde, daß ich 800 Dollar Strafe zahlen muß. Keiner der ausländischen Christen: Wo sind die einheimischen Christen? Es gibt so viele Theologen, die die Bibel sehr gut kennen. Sie fragen nicht nach den Menschen, nach den Christen hier. Sie interessieren sich für die toten Steine der Heiligen Stätten - aber nicht für die lebendigen Steine, die Christen hier. Das ist für uns sehr traurig. Die Christen könnten mithelfen, daß wir hier zueinanderfinden.

Touristen, auch nach Palästina!

Welcher Tourist kommt nach Palästina? Die Touristen gehen nach Israel. Sie müssen fordern, daß Sie auch nach Palästina gehen! Es ist für unsere Menschen wichtig, zu sehen, daß die Touristen für uns Interesse haben, daß sie etwas von uns wissen wollen. Das würde auch unsere Wirtschaft ankurbeln helfen. Sie gehen aber an uns vorbei, nehmen uns nicht wahr und sehen unsere Probleme nicht. Sie gehen zurück und haben nichts von unserm Land und Volk begriffen.

Der Friede Israels muß der Friede der Palästinenser sein - die Sicherheit Israels muß auch unsere Sicherheit sein. Ein Überleben der einen Seite ist bedingt vom Überleben der anderen Seite. Es darf nicht sein, daß die eine Seite die andere beherrscht. Die Sucht nach Herrschaft muß weg - wir Menschen haben alle den gleichen Wert. Keiner ist mehr wert als der andere. Und in diesem Sinne möchte ich auch, daß wir uns sehen, als Menschen, die die gleichen Rechte haben, die man selber hat. Das ist die eine Front. Die andere Front ist die der Radikalen auf beiden Seiten. Sie spielen sich gegenseitig in die Hände. Wenn die eine radikale Gruppe etwas Schlimmes tut, hilft sie der anderen. Doch wenn wir Menschen des Friedens etwas tun, dann ist es ein Gewinn für beide Seiten, für uns und für Israel.

Auszug aus dem Gespräch im Anschluß an den Vortrag:

Studenten als Bauarbeiter, kein Brot

Zwanzig Prozent meiner ehemaligen Studenten arbeiten jetzt auf dem Bau, d.h. beim Bau der jüdischen Siedlungen, oder sie sind Kellner in Israel geworden. Das ist nicht einfach für diese Menschen. Mit unseren Händen, mit internationalem Geld und israelischer Planung wurden diese Siedlungen gebaut. So ist die Politik. Heute dürfen nur 3000 bis 4000 Palästinenser nach Israel gehen, wenn die israelische Wirtschaft nicht auf sie verzichten kann. Allerdings nur Männer, die über 40 Jahre alt sind und die eine Familie mit Kindern haben. Dafür importierte Israel 300 000 Gastarbeiter aus Südosteuropa oder dem Fernen Osten. Damit werden beide Gesellschaften noch einmal schwer belastet. Wir brauchen nur Freiheit, um in Würde leben und unser Brot verdienen zu können. Wir wollen nicht betteln. Wir wollen nichts anderes, als auf unserem eigenen Land arbeiten zu dürfen, wie alle anderen Völker. Mit unseren Steuern müßten wir fähig sein, unsere Kosten zu decken. Das gehört zu unseren Menschenrechten, dies zu tun. Es ist so schwer, vor allem für unsere jungen Menschen. Sie haben gegen die Besatzung gekämpft - nun aber sagt unsere Regierung, seid still und zufrieden mit dem, was euch zur Verfügung steht. So kommt es zu den Problemen. Die Regierung sollte uns das Brot geben können. Aber sie hat bei Null angefangen und muß nun eine Infrastruktur aufbauen, Gesetze müssen geschaffen werden, eine demokratische Struktur aufgebaut werden. Die Gesellschaft braucht Rahmenbedingungen. Das müssen wir alles aufbauen, und vor allem müssen wir uns mit dem revolutionären, militärischen Denken und mit zivil- freiheitlichem Denken auseinandersetzen.

Gesprächsverbot

Frage: Haben Sie in Israel Leute, die ähnlich denken, mit denen Sie im gespräch sind, mit denen Sie zusammen arbeiten?

Natürlich! Die Mehrheit der Menschen in Israel will Frieden haben. Wer aber so denkt wie ich: zwei Staaten für zwei Völker, gleiche Rechte für alle - das sind nicht mehr als fünfundzwanzig Prozent. 65 % wollen Frieden - aber sie sagen, die Regierung macht das schon.

Sie denken selbst nicht nach. Die Mehrheit in Israel weiß gar nicht, was bei uns geschieht. Wer es wissen will, kann sich zwar informieren - aber die Mehrheit will es gar nicht wissen. Es ist viel einfacher, es nicht zu wissen.

Bis 1992 war es verboten, daß wir, Israelis und Palästinenser, uns als politische Gruppen trafen und miteinander sprachen. Wir konnten uns nicht in Israel treffen, nicht einmal in Jerusalem oder im Irak. Wir bekamen keine Genehmigung für solche Treffen. Die totale Trennung hat dahin geführt, daß wir einander fremd geblieben sind, ja, wir hatten so viele Vorurteile voneinander. Sie hörten von uns nur, wenn das Militär schreckliche Dinge von uns berichtete, wenn etwas Schreckliches passiert war - und für uns waren sie die brutalen Soldaten. Es gab aber Leute in Israel, die sich verbotenerweise mit PLO- Leuten trafen. Sie kamen dafür ins Gefängnis. (...) Und es gibt andere Menschen in Israel, vor allem junge Leute, die sich weigerm, als Soldaten in die Gebiete zu gehen - sie kommen auch ins Gefängnis.

Aber richtig gemeinsam etwas unternehmen, zusammenzuarbeiten, das funktionierte nur unter den Frauen. Weil es einfacher ist und weil sie losgelöst von der großen Politik einfach auf die Menschen zugehen, die menschlichen Probleme ansprechen und bereit sind, sich auszusprechen. In der Gruppe, in der ich mitarbeite, sind 80 Israelis und 80 Palästinenserinnen. Wir treffen uns seit 1988. Mal geht es gut, mal weniger gut. Wir setzen uns auseinander. Letztlich haben wir uns als Freundinnen akzeptiert. (...) Aber Jugendaustausch ist noch nicht möglich. Die jungen Israelis sind alle beim Militär - und unsere Jugend hat keine Bewegungsfreiheit. Wo sollen sie sich treffen, wenn man nur einen Spielraum von zwei bis vier Kilometer hat? Erst muß die Besatzung weg. Dann kommt das andere. Es hat keinen Sinn, wenn einer dem anderen sagt, wir reichen euch die Hand, wenn der eine der Besatzer und der andere der Unterdrückte ist.

Gazastreifen

Frage: Wie ist es mit Gaza? Gibt es dort mehr Freiheiten?

Nein, dort ist es noch schlimmer. Der Gazastreifen ist 40 km breit und 350 Quadratkilometer groß. Nur 60 % davon wurden den Palästinensern gegeben, nicht in einem Stück. In den 40 %, die also zwischendrin liegen, leben 3000 Siedler - in den 60 % eine Million Palästinenser. Die 3000 Siedler brauchen 15000 Soldaten als Schutz. (...) In Gaza gibt es alle zwei Kilometer eine Polizeisperre: 32 Sperren! 22 palästinensisch e Sperren, der Rest sind israelische Sperren. Die Menschen dürfen den Gazastreifen nicht verlassen. (...) Wir haben in unserer Universität (in der Westbank) 500 Studenten aus dem Gazastreifen. Seit eineinhalb Jahren dürfen sie keinen Antrag stellen, um an unsererer Universität fertig zu studieren. Sie müssen Schlupfwege finden. Sie stellen einen Antrag, um nach Europa, Zypern oder Ägypten zu reisen. Dann geht es nach Jordanien und über die Brücke nach Jericho. Sie fahren in Richtung Jerusalem, steigen unterwegs aus und gehen dann durch Judäische Wüste, mit dem Risiko, daß sie unterwegs von israelischen Siedlern oder Militär angeschossen werden. Auf diesen Umwegen kommen sie schließlich in Birzeit an. Nachts schlafen sie mit ihren Schuhen im Bett, um bei Gefahr - wenn eine israelische Razzia kommt - schnell in die Täler laufen zu können. Zweimal oder dreimal die Woche kommt eine Razzia zu uns und sucht Studenten aus Gaza.

Weiterkämpfen...

Ich habe kein Konzept. Ich versuche weiterzukämpfen. Wir befinden uns in einem großen Krieg, doch um zu überleben bekämpft uns Israel so sehr wie nie zuvor, wirtschaftlich und menschlich. Viele meiner Kollegen sagen, Du gehst nach Deutschland, wir gehen nicht hin, das hat keinen Zweck. Aber ich habe das Gefühl, daß ich dazu verpflichtet bin.


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