Oldenburger STACHEL Ausgabe 10/98      Seite 6
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Ohne Wind keine Fahrt

Große Freude allgemein bei Menschen, die für Demokratie, Umwelt und Gewerkschaftsinteresse n eingetreten sind: Der Dicke ist weg, die versteinerten Verhältnisse auf Bundesebene kommen wieder in Bewegung! Welch eine Freude, die Arroganz der Macht am Wahlabend in sich zusammensinken zu sehen! Auch bei uns Stachlern war die Stimmung gut. Dieses Erlebnis war einfach zu einmalig. Das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik hat das Volk eine Regierung mit klarer Mehrheit abgewählt. Sogar eine PDS mit reformsozialist ischem Anspruch war mit Hilfe von Stimmen "aus dem Westen" über die Fünf- Prozent-Hürde gehüpft und in Fraktionsstärke in den Bundestag gekommen, ohne daß dadurch die rot-grüne Mehrheit gefährdet worden war. Die Mehrheit der Deutschen hatte sozialdemokratisch, grün und links gewählt, europäische Normalität war bei uns eingekehrt. Geil!

Keine Aufbruchslaune

Euphorie wollte trotzdem nicht aufkommen. Von Aufbruchstimmung keine Spur. Die Regierungsmannschaft wird ausgetauscht, aber der Neue ist nur zu altbekannt. Der Automann, der Freund der Industrie, glücklich, in die Oper eingeladen zu werden... Doch immerhin ist er ein Sozialdemokrat, ein paar Gesetze der alten Regierung wird er wohl zurücknehmen müssen, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Kündigungsschutzeinschränkung... Auch an einer Steuerreform wird er nicht vorbeikommen. Doch wem diese letztendlich nutzen wird? Und ob ein bis zwei Prozent Steuerfinanzierung von Nebenkosten Betriebe veranlassen wird, neue Arbeitsplätze zu schaffen... sehr fraglich! Hier hört bei einigen schon die Hoffnung auf, es überwiegt Skepsis. Gespannte Erwartung wird eher mit der Rolle der Grünen im rot-grünen Gemisch verbunden. Sie sind das erste Mal ganz oben dabei. Wie viele ihrer Forderungen werden sie mit ihren sechseinhalb Prozent wohl durchsetzen können? Lassen sie sich von den ausgebufften Politprofis über den Tisch ziehen, nur um dabeisein zu können? Haben sie daraus gelernt, wie sie in Nordrhein-Westfalen von Klement vorgeführt worden sind? Bei Redaktionsschluß waren alle diese Fragen noch unbeantwortet, die offiziellen rot- grünen Verhandlungen hatten gerade erst begonnen.

Hilfe!

Eines läßt sich jedoch jetzt schon voraussagen: Um im Sinne der außerparlamentar ischen Initiativen erfolgreich sein zu können, braucht die neue Regierung Hilfe, nämlich Druck und Bewegung von unten! Was auch immer die Grünen gegen die Atommafia durchsetzen können, was auch immer Menschen mit geringem Verdienst an Steuererleichterung en zugestanden wird, es geschieht, weil alle Beteiligten in der Regierung wissen, daß Teile der Bevölkerung dafür auf die Straße gegangen waren, blockiert und gestreikt hatten! Insofern unterscheidet sich die neue Regierung nicht von der alten... Auch unter Merkel konnte die Anti-Castor-Bewegung durchsetzen, daß die Transporte erst einmal gestoppt wurden. Sollte die neue Regierung wirklich ein Atomausstiegsprogramm beschließen, so ist dann immer noch nicht garantiert, daß es auch vollständig verwirklicht wird. Als sich Rot-grün 1990 in Niedersachsen Anti-Atompolitik ins Regierungsprogramm geschrieben hatte, verfaßte der Arbeitskreis Wesermarsch, die Initiative gegen das AKW Esenshamm, einen neuen Briefkopf. Er enthält seitdem den Hinweis: "Es reicht nicht, die Belange der Anti-AKW- Bewegung an die Landesregierung zu delegieren. Wenn wir das AKW Esenshamm und andere stillegen wollen, müssen wir begreifen, daß es ohne unser entschiedenes Dazutun hierzu nicht kommt." Leider muß festgestellt werden, daß sie nur zu Recht hatte: Der von Naturschutzverbänden bekämpfte Wesertunnel wird gebaut, aber das AKW ist erst jetzt durch einen sehr gefährlichen Bedienungsfehler und durch den Castor- Widerstand ins Gerede gekommen. Bis dahin konnte es uneingeschränkt betrieben werden.

Das Neue

Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied zwischen der alten und der neuen Regierung: Bisherige Landesregierungen hatten nur wenige Möglichkeiten, gegen die Atommafia aktiv zu werden. Atompolitik ist Bundessache, die Gesetze werden in Bonn gemacht. Jetzt erst, mit neuer Mehrheit im Bundestag, könnten Atomgesetze auf einen Ausstieg hin verändert werden. Bisher hat die Anti-AKW-Bewegung im Wesentlichen auf Beschlüsse der Regierungen reagiert und Sand ins Getriebe gestreut. Jetzt erst besteht (vielleicht) die Chance, Einfluß auf einen Ausstiegsbeschluß und auf seine Ausführung zu nehmen. Die Diskussion um Atompolitik wird dadurch eine neue Qualität bekommen.

Betroffenheit ist nicht alles...

Wenn es richtig ist, daß erfolgreiche Bundespolitik für außerparlamentarische Initiativen nur durch Druck und Bewegung von unten möglich ist, dann ist zu befürchten, daß die Gruppen der Gesellschaft auch weiterhin ins Abseits gestellt werden, die sich bisher nicht organisieren und Widerstand leisten konnten. Tatsächlich haben besonders die Ärmsten der Gesellschaft, Arbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen, in den letzten Jahren unter Einkommenskürzungen und Sozialabbau leiden müssen. Wird die neue Regierung diese Tendenz umkehren, obwohl es in Deutschland keine Arbeitslosenbewegung wie in Frankreich gibt? Wird z. B. eine Kindergelderhöh ung auch SozialhilfeempfängerInnen zu Gute kommen? Bisher müssen diese das Kindergeld vollständig an die Kommune abführen. Gerade die, die eine Erhöhung am dringendsten brauchen, Alleinerziehende ohne Lohneinkommen mit ihren Kindern, würden keinen Pfennig dazubekommen. Mit welchem Druck Arbeitslosigkei t eine Gesellschaft deformiert, hängt stark davon ab, inwieweit der Sturz in ein Leben ohne Lohnarbeit durch eine Grundsicherung abgefangen wird. Hierauf zu achten, Menschen am Rande der Gesellschaft aufzufangen und zu schützen, wäre eine vordringliche Aufgabe einer Regierung mit humanem Anspruch. Ob dies wirklich geschehen wird, wird wohl davon abhängen, inwieweit die Öffentlichkeit und außerparlamentarische Bewegungen dies kontrollieren oder erstreiten werden. Dabei wird es notwendig sein, über den Tellerrand der konkreten Betroffenheit hinauszusehen. Ob Abschiebungen weiterhin stattfinden, in welchem Ausmaß Abschiebehaft und überfallartige Verhaftungen von hilflosen Flüchtlingen weiterhin bundesdeutsche Normalität sein werden, die kaum jemanden interessieren, ist erst zuletzt davon abhängig, welchen Widerstand die Flüchtlinge selber leisten. In diesem Sinne: ein Erfolg der neuen Regierung hängt von uns allen ab. Das Kreuzemachen war erst der erste, kleinste Schritt.

(achim)


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