Oldenburger STACHEL Ausgabe 6/00      Seite 12
 
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Radio-Frequenzen für Oldenburg

LeserInnenbrief

Doch keine neuen Gesetze?

Im Hintergrund scheint die Ausgangsfrage zu verschwinden: Wie kann mensch, wie können Gruppen angemessen auf Verfehlungen von Mitgliedern - hier Grabscherei - reagieren. Zum Beitrag der AG System und Struktur im STACHEL 5/00 auf den Leserbrief von Gerold Korbus im STACHEL 4/00 äußert Gerold Korbus:

Lieber Jörg, liebe AG System und Struktur,

zu der Auffassung, daß es bei der Autonomen Antifa Gesetze gäbe, die von anderen Gruppen zu tolerieren seien, stellte ich Fragen, wie zu verstehen sei, daß Links-AnarchistInnen ihr Leben per Gesetzeskraft strukturiert wissen möchten. Außerdem interessiert mich weiterhin, wenn feststehende Regelungen zur Organisation des Lebens helfen und außerhalb der Gruppen Stehende diese tolerieren sollen, wie diese Regelungen entstehen, wer daran beteiligt ist und wie sowie wo die Sanktionen bei Nichteinhaltung ersichtlich sind. Leider kann ich keine Antwort auf meine Fragen entdecken.

Liebe Männer: Bitte nicht beteiligen

Nun schreibst Du, lieber Jörg, der benutzte Begriff "Gesetze" sei leider unreflektiert verwendet worden. Doch wo bleiben die Reflektionen? Vermutlich unreflektiert vermisse ich übrigens mindestens einen Absatz zwischen der Äußerung über meine Zeilen und der berechtigten Kritik an "geballtem Zynismus und Negativismus" in mindestens Teilen der Diskussion.

Was kritisierst Du daran, daß sich im wesentlichen Männer bei dieser leider doch im Sinne des Wortes "Auseinander"setzung zu Wort gemeldet haben. Soll das heißen, daß ich Deine Zeilen lieber nicht so ernst nehmen soll, da ich vermute, daß auch Du männlichen Geschlechts bist? Sicherlich wäre es ein positives Zeichen, würden sich mehr Frauen an den Diskussionen beteiligen. Daß an dem derzeit nicht ist, sollte zum Nachdenken anregen.

Kultur des Geltenlassens und Lebenlassens

Irrtümlich interpretiert scheint mir, bei den Vorgängen auf der Demonstration am 29.1.00 handele es sich um eine Frage der "Kultur des Geltenlassens" anderer Anschauungen in dem Sinne, daß einfach zuzulassen gewesen wäre, was da abging. Wenn ich mich zu diesem Thema äußere, dann handelt es sich nicht um den Versuch, eine bestimmte Person bzw. einen bestimmten Mann zu verteidigen.

Es geht um grundsätzliche Werte. Würdest Du Dich in dieser Situation befunden haben, lieber Jörg, engagierte ich mich ebenso. Bei der Demonstration spürte ich deutlich die Bereitschaft Einiger zur Ausübung körperlicher Gewalt gegen eine Person. Das kann ich nicht gutheißen - ohne Ansehen der Person. Im Übrigen ist selbst in diesem bürgerlichen Staate keine Prügelstrafe vorgesehen - bei aller spürbaren Verbitterung nicht. Ich bin dagegen, diese einzuführen. Vielleicht ist sie ohnehin nicht nötig, wenn William George Jordan recht hat: "Es gibt keinen Menschen auf der Welt, dem es jemals gelungen wäre, einem anderen unrecht zu tun - ohne daß es auf ihn selbst zurückgekommen wäre: irgendwie, irgendwann ...". Jedenfalls geht es nicht darum, Fehlverhalten folgenlos zu lassen. Doch die betriebenen Konsequenzen begrüße ich nicht.

Auch die Durchsagen währen der Demo über das Mikrophon treffen nicht auf meine Zustimmung. Das eigentliche Anliegen des Zusammentreffens wurde sabotiert. Das war so peinlich, daß es selbst bei Euch zu offener Kritik führte. Leider findet die öffentliche Diskussion über solche Peinlichkeiten nur selten statt. So fand diese Kritik z.B. keinerlei Niederschlag in der Alhambra-Zeitung. Ob das ein Zeichen für die Entwicklung einer wirklich freien Gesellschaft ist? Wohl kaum! Wobei ich mit freier Gesellschaft nicht eine solche meine, wo Freiheit als die zwanghafte Pflicht verstanden wird, überdreht zu sein und die Überdrehtheiten auch noch ausleben zu müssen.

Nicht alles unter Kontrolle?

Indirekt wird von mir ein "kontrolliertes" Verhalten eingefordert. Liegt einer solchen Forderung vielleicht eine versteckte Angst vor Kontrollverlust zu Grunde? Da mir die Antworten auf meine "unkontrollierten" Fragen verwehrt blieben, versuche ich eigene.

Ich glaube nicht, daß die Verwendung des Begriffes "Gesetze" im STACHEL zufällig geschah. Denn im weitesten Sinne gibt es keine Zufälle. Es gibt Gesetzmäßigkeiten - was bedeutet, das die Agierenden bestimmte Charaktere verkörpern und ihr Handeln sich im Rahmen bestimmter Strukturen bewegt.

Deshalb war es ebenso wenig zufällig, daß Du, lieber Jörg, mir die Antwort auf meine Fragen nach der Ursache und den Folgen der Gesetze der Autonomen Antifa im Wesentlichen schuldig bliebst. Denn obwohl sich die Autonome Antifa - wie alle Gruppen (!) - eigene Gesetze oder meinetwegen Regeln schuf, darf dies gleichwohl nicht sein, denn das paßt mit der eigenen Ideologie nicht zusammen.

Die Unbestimmtheit aber bietet einigen Wenigen in den Gruppen die Möglichkeit, für die Gruppe unreflektiert die Maximen von deren Handeln bestimmen zu können. So kann es geschehen, daß kluge und intelligente Menschen sich gefallen lassen, als "VerteidigerInnen von Tätern" diffamiert zu werden, wenn sie es wagen, Dinge in Frage zu stellen.

Gewalt steht zur Frage

Fragwürdig ist für mich bereits die Verwendung des Begriffes "Mißbrauch". Denn ich gebrauche Dinge und nicht Menschen. Und nur Gebräuchliches ist auch Mißbräuchlich verwendbar. Somit handelt es sich bei der Verwendung des Begriffes "Mißbrauch" um eine Degradierung einer Person zur Sache, die möglicherweise hätte benutzt werden dürfen, deren Nutzung jedoch übertrieben wurde, sie also "mißbraucht" wurde. Vielleicht sollte dieser gebräuchliche sprachliche Umgang reflektiert werden. Denn warum eigentlich benennen wir das Mädchen geschlechtslos, den Jungen jedoch ab Geburt wie einen Mann? Entscheident ist für mich bei der "Mißbrauchsfrage", ob etwas gegen den Willen einer Person geschieht!

Vom besonderen Ansehen

Mitglied des Stadtparlaments zu sein, hat offensichtlich etwas Besonderes. Wie sonst ist zu verstehen, daß die AG System und Struktur gerne erklärt haben möchte, wie es dazu kommen konnte, daß ausgerechnet ein Mitglied des Stadtparlamentes ... Ich möchte Mark Twain zitieren: "Jeder ist ein Mond und hat eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt." Sind Ratsfrauen und -männer nicht ganz normale Menschen? Zugegeben, ca. die Hälfte sind ganz besondere Pappnasen!

Wenn jedoch sich aufgeklärt gebende Menschen solche naiven Fragen stellen wie die geäußerte Bitte um Aufklärung, wie es sein kann, daß Personen "mit Rang und Adel" zu MissetäterInnen werden, steckt vielleicht auch etwas anderes dahinter. So konsequent, wie dieses Thema in so unglücklicher Weise am Gären gehalten wird, gibt es möglicherweise noch andere Interessen im schlechten Spiel. Dabei ist das Thema wichtig! Zu wichtig, um es als Spielball persönlicher Intrigenschmieden verkommen zu lassen.

Kann die Öffentlichkeit helfen?

Du fragst, lieber Jörg, warum über diesen Vorfall nicht in aller Öffentlichkeit geredet werden darf. Für mich bestehen hier keine Zweifel: Es muß darüber Verständigung herbei geführt werden. Doch leider ist bei allen Zeilen im STACHEL - der möglicherweise einen Teil der erwünschten Öffentlichkeit darstellt - nicht im Geringsten der konkrete Vorwurf erhoben worden. Ist es verständlich, wenn sich auch bei wohlmeinenden BetrachterInnen des Geschehens der Eindruck aufdrängt, daß es sich möglicherweise um eine Hexenjagd oder lediglich um heiße Luft handelt?

Frauen stärken!

Auch halte ich für fraglich, daß der Vorfall das eigentlich Wichtige und Besprechenswerte darstellt. In Gesprächen - vor allem mit Frauen - hierzu zeigte sich, daß weder die Verfolgung eines Täters noch die gezeigte Schwarz-Weiß-Malerei als wünschenswert betrachtet wird. Sehr vermißt werden hingegen ernstzunehmende Auseinandersetzungen über gesellschaftliche Strukturen, in denen Frauen gestärkt werden. Vermutlich dauert es noch etwas, doch ich bin sicher, daß diese Diskussion wieder kommen wird. Das werden auch die Platzhirsche nicht verhindern können. Es wäre schön, wenn sich bis dahin nicht so ekelhaft gekloppt worden wäre, daß sich niemand mehr ansehen mag.

Entwaffnende Solidarität

Lieber Jörg, bitter aufgestoßen ist mir Dein Satz, in dem Du den "Anspruch auf Solidarität" Bestimmter meinst verneinen zu können. Ist "Solidarität (immer noch) eine Waffe"? Solidarität ist nötig! Ich möchte solidarisch sein mit allen Unterdrückten. Doch wenn es welche gibt, die meinen entscheiden zu können, welche notwendige Solidarität doch verweigert werden könnte, an welchem Abgrund bewegen wir uns dann? Ich vermute, am Rand der seit langem vorhandenen Spaltung. Denn eine wirklich solidarische Gesellschaft läßt sich durch so einen "Fall" nicht spalten, sondern findet gute Lösungen! Mein Leitsatz hierzu kommt von Anne Wilson Schaef: "Auf die gleiche Frage kann es zwei und mehr Antworten geben, und alle können richtig sein."

Prinzip Hoffnung

Bei der vorhandenen Spaltung wird der Graben, der im Leben zuzuwuchern drohte, durch solche Ereignisse und den unglücklichen Umgang damit allenfalls in seiner Funktion wirksam gehalten. Doch das hält nicht für immer! In diesem Sinne schreibe ich auch "lieber" Jörg und "liebe" AG System und Struktur, obgleich ich von Dir benannt werde in "diffamierender und abkanzelnder Weise", wie es mir ein STACHEL-Leser als seine Empfindung mitteilte. Ich glaube fest an die Feststellung von Helen Reddy: "Liebenswürdigkeit ist keine exklusiv weibliche Eigenschaft."

Ich freue mich, daß es Menschen gibt, denen in "diesem unserem" Lande nicht alles gleichgültig ist. Und das meine ich aus den bisherigen Aktivitäten lesen zu dürfen. Da muß mir nicht gleich alles gefallen, was dabei rauskommt. Doch es wird schon werden. So möchte ich mit Marianne Moore schließen: "Krankheit ist ansteckend. Das gleiche gilt für Vertrauen."

Gerold Korbus

 

 
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