Oldenburger STACHEL Ausgabe 6/96      Seite 11
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Radio-Frequenzen für Oldenburg

taz druckt nicht alles:

Leserinbrief

Betr.: P. Singer, taz 8.5./11.5.96

Liebe tazzen!

Am 11.5.96 wurde dem sogenannten Bioethiker Peter Singer (Australien), der bisher auf allen Kongressen vom Rednerpult ferngehalten werden konnte, über eine ganze Seite Interview in der Taz gewährt. Er konnte sich ausführlichst verbreiten und sich auch der letzten Leserin als harmloser Philosoph von nebenan darstellen, ohne daß es gelungen wäre, mit seinen Argumenten umzugehen und angemessen zu reagieren. Die "Hämmer" werden hinter unverschämt subtiler Argumentation versteckt, die erst im Einzelzitat sichtbar wird. ("Müßten Sie den Begriff des subjektiven Lebensinteresses nicht sogar grundsätzlich in Frage stellen?"-"Und welches Unterscheidungskriterium zwischen einem Wesen, das ein Recht auf Leben, und einem, das kein Recht auf Leben hat, sollte man ansonsten vorschlagen?") Die behindertenverbä nde und andere Kritikerinnen werden wieder nicht gefragt, welche Gründe es für die Ablehnung eines "rational" argumentierenden "Bioethikers" gibt, der pauschale Prinzipien für die legitime Tötung von Menschen aufstellt und dessen Kriterium, wer ein "Recht auf Leben" hat und wer nicht, auch die sachlichste Wissenschaftlerin an die Decke bringen muß. Wer sich seine Kernsätze einmal im Original durchgelesen hat, hegt keinen Zweifel mehr, daß da grenzen des gerade noch Tragbaren überschritten werden. Singers Kernformulierung:"daß die Zugehörigkeit eines menschlichen Wesens zur Spezies Homo sapiens allein keine Bedeutung dafür hat, ob es verwerflich ist, es zu töten, entscheidend sind vielmehr Eigenschaften wie Rationalität, Autonomie und Selbstbewußtsein..." (siehe Koryphäe Nr. 19)

Singer geht es nicht um Ausnahmefälle, in denen bei schwerstbeschädigten Neugeborenen, die nur wenige Tage überleben können, das Leiden nicht künstlich verlängert werden soll. Es geht ihm darum, provokativ das Menschentrecht in Frage zu stellen und sich selbst dabei prominent im Vordergrund zu sehen. "Diese Schlußfolgerung beschränkt sich nicht auf Säuglinge, die wegen irreversibler geistiger Zurückgebliebenheit niemals rationale, selbstbewußte Wesen sein können". Was ist irreversible geistige Zurückgeblieben heit, und wer will entscheiden, welches menschliche Wesen vernunftbegabt und bewußt ist? Ein Kommentar eines Behindertenpädagogen (sinngemäß): "In meiner Arbeit mit 30 behinderten Menschen habe ich gesehen, daß ihnen ein selbstbestimmtes, selbstbewußtes Leben möglich ist."

Sicherlich wird Singer wichtiger gemacht als er tatsächlich ist; doch längst finden sich zahlreiche Fachleute, die seine Ansätze übernehmen und weitere Begründung finden. Sie beruhen auf Vorgängen, die zum Teil längst praktiziert werden. Mit der Pränataldiagnose kann festgestellt werden, ob ein behindertes Kind zur Welt kommen wird; die Implikation zielt darauf, es abzutreiben, weil sein Leben der Mutter oder dem Kind selbst nicht zugemutet werden kann. In der Beratung wird kräftig suggestiv nachgeholfen. Dabei werden alle Erbkrankheiten, Mißbildungen und behinderungen in einen Topf geworfen.

Die feministische Biologin Ruth Hubbard beschreibt die absurde Ideologie der selektiven Abtreibung am Beispiel der Krankheit Chorea Huntington, die mit einem dominanten Gen vererbt wird und auf der Liste der Pränataldiagnostik steht. Sie bricht meistens erst aus, nachdem die Betroffenen dreißig, vierzig oder fünfzig Jahre gesund gelebt haben. "Woody Guthrie hatte Chorea Huntington, aber er erkrankte erst, nachdem er ein vielfältiges und kreatives Leben geführt, den Grundstein der amerikanischen Proestsong-Kultur gelegt und seine Kinder großgezogen hatte." (The Politics of Women's Biology, 1987/1990).

Sie zitiert die Lebenserfahrung vieler Andersbefähigter, denen die vielfachen Diskriminierungen, denen sie in der Gesellschaft ausgesetzt sind, mehr Leid zufügen als ihre körperliche Behinderung.

Redaktion der Koryphäe, Medium für feministische Naturwissenschaft und Technik,

Cloppenburger Str. 35, 26135 Oldenburg


Diese Veröffentlichung unterliegt dem Impressum des Oldenburger Stachel. Differenzen zur gedruckten Fassung sind nicht auszuschließen.
Nachdruck nur mit Quellenangabe, Belegexemplar erbeten.

 

 
  Differenzen zur gedruckten Fassung nicht auszuschließen. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Siehe auch Impressum dieser Ausgabe und Haupt-Impressum