Oldenburger STACHEL Ausgabe 1/98      Seite 3
 
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Arbeitslose in Bewegung

Eine neue politische Kraft ist auf der Bühne Europas erschienen: die Bewegung der Arbeitslosen, Obdachlosen und "Papierlosen" (Menschen ohne Papiere) in Frankreich. Von einem mitleidig belächelten und geduldeten Aktionsbündnis vieler kleiner örtlicher Gruppen hat sie sich zu einer andauernden landesweiten Bewegung gemausert, die der Jospin-Regierung und den "Patrons" das Fürchten lehrte. Inzwischen wurden ihre VertreterInnen bereits als Verhandlungspartner der Minister akzeptiert. Doch auch die deutschen Industriellen, Verbands- und Gewerkschaftsfunktionäre sowie ihre Politiker blicken sorgenvoll nach Westen. Dazu haben sie auch allen Grund: Nichts ist so sicher wie das Anwachsen des Arbeitslosenheeres in Europa, jetzt schon zählen sie in allen größeren Ländern nach Millionen; ein großer Anteil von ihnen hat seit langem kein normales Lohnarbeitsverhältn is mehr "genießen" können, 37 Prozent der französischen Arbeitslosen suchen seit mehr als einem Jahr eine Stelle. Als Folge stellt die französische Arbeitslosenbewegung die herrschende "Erwerbsgesellschaft" grundsätzlich in Frage. Das Prinzip, Arbeitslose durch regelmäßige Senkungen der Hilfe dazu zu zwingen, sich um fast jeden Preis um eine Arbeit zu bemühen, wird frontal angegriffen, indem Forderungen nach einem ausreichenden dauerhaften Mindesteinkommen ohne Arbeit aufgestellt werden.

Die Aktionen in Frankreich haben sich aufgrund ganz besonderer französischer Bedingungen entwickelt und verbreitert, doch eine Gefahr stellen sie für alle Herrschenden in Europa dar: Sie bieten allen Arbeitslosen und (Sozial-)Hilfeempfängern eine Perspektive, sie zeigen einen Weg aus der Ohnmacht.

Im Mai wird ein Vertreter der französischen Arbeitslosen voraussichtlich Oldenburg besuchen. Vorläufig verfügen wir über keine Informationen aus erster Hand, sondern nur über Presseberichte. Aus diesen werde ich im folgenden einen kleinen Überblick über den Entwicklungsstand der französchen Arbeitslosenbewegung geben; er hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Elende Lage

Laut einer Umfrage erklärten ca. 70 Prozent der Franzosen ihre Sympathie für die Aktionen der Arbeitslosen. Das liegt nicht zuletzt an deren elender Lage: Von den offiziell ca. 3,7 Millionen Stellunglosen bezieht nur etwa die Hälfte ein reguläres Arbeitslosengeld. Für ein gutes Viertel von ihnen beträgt es umgerechnet 900 bis 1200 DM im Monat, für ein weiteres Viertel noch weniger. Die andere Hälfte der Arbeitslosen erhält kein Geld mehr von der Versicherung oder war nie lange genug beschäftigt, um einen Anspruch zu "erarbeiten". Sie muß sich mit "Solidaritätsh ilfe" oder mit dem "Mindesteinkommen zur Wiedereingliederung" um die 650 bis 700 DM begnügen. Fast 30 Prozent der jungen Leute ist ohne Arbeit. Doch wer jünger als 25 Jahre ist, hat überhaupt keinen Anspruch auf irgendeine Hilfe! Die Lebenshaltungskosten in Frankreich sind jedoch nur geringfügig niedriger als in Deutschland, und im Raum Paris natürlich höher: Allein die Mieten erreichen dort astronomische Höhen.

Bei denen, die noch Arbeitslosengeld beziehen, wird die Hilfe alle vier Monate um 17 Prozent gesenkt; solange, bis nichts mehr übrig ist. Derzeit verfügen 80 Prozent der Arbeitslosen über weniger als 900 DM im Monat.

Der Auslöser

Im Juli 1997 beschlossen die Träger der Arbeitslosenkasse - Unternehmer- und Gewerkschaftsvertreter, ohne die CGT - eine Reform: Außenstehende Fonds verwalten nun die Gelder der Kasse - was für viele Arbeitslose die Folge hatte, daß sie keine Sonderhilfe mehr beantragen können, weil der direkte Ansprechpartner in der Arbeitslosengeldstelle nunmehr fehlt. So kam die Forderung nach einer "Weihnachtsprämie" für Arbeitslose auf, entsprechend dem 13. Monatsgehalt für Lohnabhängige. In den Vorjahren hatten örtliche Arbeitslosenkassen häufig solche Zusatzsummen ausbezahlt, um Arbeitslosen das Feiern zum Jahresende zu ermöglichen oder um die ärgsten Haushaltslöcher zu stopfen. Die Reform machte dies nahezu unmöglich. Die Selbstorganisationen der Arbeitslosen wie AC!, die "Bewegung der Arbeitslosen und Prekären" (MNCP) oder die seit Ende der siebziger Jahre von der KP-Gewerkschaft CGT eingerichteten Arbeitslosenkomitees organisierten Aktionen zur Durchsetzung dieser Forderung.

Aktionen

Am 4. Dezember fand in Marseille die erste Demonstration für die Forderung nach 3000 Francs (ca. 900 DM) "Prämie" zum Jahresende statt. Am 11.12. wurde dort die erste Besetzung einer Arbeitslosenkasse durchgeführt. Ein gutes Dutzend Besetzungen - über ganz Frankreich verteilt - folgte, wobei sich als Schwerpunkte Marseille und Umgebung sowie Arras in Nordfrankreich herausbildeten. Rasch begann sich die Solidarität zu organisieren. Inzwischen hat die Regierung die meisten Arbeitslosenkassen nach längerer Duldung durch Polizei räumen lassen.

Doch die Aktionen und die Unterstüzung haben sich längst ausgeweitet. An einer Autobahn- Mautstelle wurden in einer Stunde 5600 Francs gesammelt. In Marseille und Ch^atelleraut wurde stundenlang der Bahnverkehr blockiert. Mehrere Rathäuser und Büros von Parteien wurden besucht oder besetzt. In Paris besetzten Arbeitslosen- und Wohnungslosenkomitees am 17. Dezember symbolisch das Louvre-Museum, im Anschluß testeten sie die Solidarität von Gästen eines teuren Hotels und eines Spezialitäten- Restaurants. Am 21.12. wurden zusammen mit der Organisation DAL ("Recht auf Wohnen") zwei große Wohnhäuser in Paris besetzt zugunsten von Obdachlosen und von Menschen, die unter unzumutbaren Bedingungen wohnen. Am 30.12. wurde in Paris eine Sozialbehörde besetzt. Lokale Abgeordnete der KP und der Grünen nahmen unterstützend daran teil. Immer wieder gab und gibt es große, auch von Gewerkschaften organisierte Demonstrationen in ganz Frankreich, so eine in Paris am 13. Januar mit über 10.000 TeilnehmerInnen. Einige hundert Arbeitslose besetzten im Anschluß die Handelsbörse, aus der sie mit Tränengas schließlich wieder vertrieben wurden. Ebenfalls besetzt von ein paar Dutzend Arbeitslosen wurde die Industrie- und Handelskammer als der "zentrale Ort der Arbeitgeber". Die BesetzerInnen verwiesen darauf, daß "die Patrons eine vielfach höhere staatliche Unterstützung bekommen als die Arbeitslosen". Am 14.1. besetzten protestierende Arbeitslose die bekannteste Elite-Hochschule Frankreichs, die ENS in Paris. Sie wurden von einem Teil der Studenten und Professoren unterstützt. Am nächsten Tag blieb die Uni geschlossen. Der Direktor lehnte es ab, die Polizei zu einer Evakuierung aufzufordern. "Ich bin mit der Bewegung einverstanden," sagte er.

Die Regierung

Über den Ruf nach einer "Neujahrsprämie" sind die Forderungen der Arbeitslosenbewegung längst hinausgewachsen. Nicht nur wegen ihrer wachsenden Stärke, sondern auch aufgrund ihrer zunehmend klaren Vorstellung über die Umgestaltung der französischen "Erwerbsgesell schaft" gelingt es der sozialistischen Koalitionsregierung immer weniger, die Bewegung in ihre Politik zu integrieren und mit ein paar Zuckerstückchen abzuspeisen. An die Arbeitslosen hatte Jospin bisher bei seinen Reformvorschlägen gar nicht gedacht; er wollte Rücksicht nehmen auf die Kernarbeiterschaft und ihre Gewerkschaften sowie auf die Beschäftigten der öffentlichen Dienste. In diese Richtung ging das Signal der am 10.10.97 beschlossenen Einführung der 35-Stunden-Woche, mit der allerdings auch gleich die Flexibilisierung der Arbeitszeit schmackhaft gemacht werden sollte. Außerdem wurde der gesetzliche Mindestlohn SMIC im Juli um vier Prozent heraufgesetzt. Doch die Arbeitslosen- und Sozialhilfe sowie die Mindestrente wurden erst zum 1.1.98 um gerade einmal 1,1 Prozent heraufgesetzt - eine Steigerung unterhalb der Inflationsrate.

Die Forderungen

Nun hat sich einiges geändert:

- Bei einem Treffen mit einem Vertreter der Kulturministerin trugen Arbeitslose am 17.12. Vorschläge vor, wie gegen die Zunahme der ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse vorgegangen werden sollte. - Am 18.12., dem "Tag der Existenszminima", wurden landesweit die Forderungen nach einer Erhöhung aller Mindesteinkommen um 1500 Francs sowie nach dem Recht auf ein eigenständiges Einkommen für alle jungen Leute von 18 bis 25 Jahren erhoben. Diese Forderungen wurden am nächsten Tag dem Jugend- und Sportminister vorgetragen, ergänzt um die Forderung nach dem Recht auf Wohnen und Ausbildung für junge Leute.

- Auf einem großen Forum wurde am 20.12. in Paris Bilanz gezogen und ein Manifest verabschiedet, das drei Initiativen ankündigt: * Aufruf zur Aktion an jedem Ort für 3000 Francs Weihnachtsgeld und die Erhöhung der sozialen Mindestbezüge; * Aufruf für die Verkürzung der Arbeitszeit anläßlich der Behandlung des Gesetzes zur 35- Stunden-Woche im Parlament; * Ankündigung einer Demonstration für den 29. März, dem Tag, an dem das Parlament eine Gesetzesinitiative gegen die soziale Ausgrenzung debattiert.

Die Arbeitsministerin hat inzwischen die Präfekten der Departments aufgefordert, Vertreter aller sozialen Einrichtungen zusammenzurufen, um "die dringendsten Fälle zu überprüfen". Der Transportminister erklärte sich dazu bereit, die Erwerbslosenve reinigungen zu empfangen und mit ihnen über Maßnahmen wie die kostenlose Nutzung öffentlicher Einrichtungen und Transportmitte l zu sprechen. Jospin unterstützte dieses Vorhaben und stellte zudem Maßnahmen im Bereich der Sozialwohnungen in Aussicht. Älteren Arbeitslosen, die 40 Jahre und länger Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt haben, soll ein Frührentner-ähnlicher Status ermöglicht werden. Diese Maßnahme betrifft rund 22 000 Personen. Einer entsprechenden Gesetzesvorlage der KP stimmte die Nationalversammlung inzwischen zu. Am 4.Januar kündigte die Regierung schließlich spektakulär an, daß 500 Millionen Francs zusätzlich für Umschulungsmaßnahmen bewilligt werden würden. Das letzte Kabinett Juppe' hatte hier den Beitrag des Staates 1996 um 2,5 Milliarden gekürzt. Die neue Regierung machte also ein Fünftel der Kürzung rückgängig...Mitte Januar legte die Regierung nach und sagte zu, einen Notfonds mit einer Milliarde Francs für die Arbeitslosen zu schaffen.

Wie weiter?

Die Hauptforderungen der Arbeitslosen wurden bisher nicht angenommen, und was versprochen wurde, hat den Charakter von "Peanuts". Auch die französische Regierung versucht, das Land in die "Maastricht-Kriterien" einzuzwängen. Ein weiteres Entgegenkommen gegenüber der Arbeitslosenbewegung könnte die Einführung des Euro vermasseln. Andererseits drängen die Koalitionspartner KP und Grüne auf Kompromisse, viele ihrer Mitglieder und Funktionäre nehmen an Aktionen teil. Zeigt sich Jospin zu starr, bricht ihm die Basis weg. Seine Glaubwürdigkeit, eine Reformalternative zur letzten Regierung zu sein, könnte zu Bruch gehen. Schafft es die Arbeitslosenbewegung, den hohen Mobilisierungsgrad zu erhalten, dann kann es noch richtig interessant werden. Francois Desanti, Vorsitzender der Nationalen Arbeitslosenvertretung der CGT, kündigte in einem Interview eine Fortsetzung der Aktionen an. Er ergänzte: "Wir verlangen vom Regierungsbündnis, daß es Maßnahmen gegenüber den Unternehmern trifft, damit diese ihrer Verpflichtung zur Arbeitsplatzbeschaffung nachkommen, das heißt zum Beispiel durch Steuern, die das Kapital treffen. Das ist auch die Haltung der Kommunisten. Unsere Forderungen zwingen die politischen Parteien, Stellung zu beziehen. Und alle, die die Arbeitslosen unterstützen, sind uns willkommen."

achim

(Informationen zum Thema entnahm ich u.a. der SZ, der FR, der taz, der "jungen Welt", der "SoZ - Sozialistischen Zeitung", dem Internet)


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