Oldenburger STACHEL Ausgabe 2/98      Seite 15
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Zur aktuellen Lage in Weißrußland:

Am 26.4.86 verließen um 1.20 Uhr 50 bis 70 Mio. Curie langlebiger Nuklide das Atomkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine, nahe an der Grenze zu Weißrußland. Kurz darauf sprach man weltweit vom Supergau. Doch während in San Francisco Jodtabletten gegen die Strahlung ausgegeben wurden, marschierten in Gomel, 60 km vom brennenden Reaktor entfernt, am 1. Mai die Kinder noch zur Parade.

Die Folge des Supergaus sind 400.000 strahlengeschädigte Kinder alleine in Weißrußland; von 600.000 eingesetzten Katastrophenhelfern weiß niemand, was aus ihnen geworden ist. Schätzungen sprechen von Zehntausenden von Toten und Schwerstkranken. Die ersten Helfer, die zu Beginn auf dem Dach waren, liegen sieben Meter tief auf dem Moskauer Ehrenfriedhof in Zinksärgen begraben, damit sie die Umgebung nicht verstrahlen. Ein Atommüllendlager in Moskau.

Umsiedlung und "Havarie"-Folgen

130.000 WeißrussInnen wurden umgesiedelt. Siebenmal zog die Tschernobylwolke um die Welt, obwohl ein Großteil der freigewordenen Radioaktivität (72 %) über Weißrußland künstlich abgeregnet wurde. 23 Prozent des Landes, wo heute noch immer zwei Mio. Menschen, darunter 600.000 Kinder, leben, wurde kontaminiert. Die Krebsraten steigen rapide, 37 Krankheiten treten im Durchschnitt fünfmal häufiger als bisher auf, neue Krankheiten wie Gedächtniskrebs werden entdeckt. Vom "Tschnernobylaids" sind in der Zone fast alle betroffen. Die Folge ist Mattheit und große Konzentrationsschwäche. Das Immunsystem ist am Ende, weil der Körper ständig von Strahlen bombardiert wird. Kleine Krankheiten wie Erkältungen beuteln gerade Kinder oft wochenlang. So kommt es, daß die Schulstunden oft nur 30 Minuten dauern, mehr schaffen die Kinder nicht. Mittlerweile wird auch offiziell gemutmaßt, daß Kinder heranwachsen, die zu keinen Leistungen auf Hochschulniveau mehr fähig sein werden.

Erst der Anfang...

Das Schlimmste aber ist, daß damit gerechnet wird, daß die Katastrophe noch 14 Generationen lang Tod und Elend bringen wird. WissenschaftlerInnen gehen davon aus, daß erst in 20 bis 25 Jahren der Höhepunkt der tschernobylbedingten Krankheiten erreicht sein wird.

Kaum verwunderlich ist, daß die Geburtenrate nach 1986 rapide gesunken ist. Die Frauen haben Angst, Kinder zu kriegen.

Diktator und Westen: Normalität!

Präsidialdiktator Alexander Lukaschenko will nun wieder zur Normalität übergehen. Schützenhilfe leistet ihm dabei nicht nur seine große politisch motivierte Ignoranz, sondern auch der Westen. So hat das Jülicher Atomforschungszentrum schlampige Untersuchungen in der Zone durchgeführt, die zu Ergebnissen kommen, die es möglich machen, die Folgen des Supergaus zu verharmlosen. Auch die "Internationale Atomenergiebehörde" kam bereits 1989 zu folgendem Ergebnis: "Es besteht kein direkter Zusammenhang zwischen dem Ausbruch der Reaktorkatastrophe und den auftretenden Schäden und Erkrankungen rund um Tschernobyl."

Einer der wenigen Mahner in Weißrußland ist Prof. Nesterenko, der ein Basisnetz von lokalen Meß- und Bereatungsstellen in Weißrußland betreibt. 370 Meßstellen gehören dazu, von denen eine nach der anderen aus Geldmangel schließen muß. Denn wenn es keine Meßwerte mehr gibt, dann ist das der erste Schritt zur Normalität. Die 50 wichtigsten Meßstellen sollen nun durch ausländische Partner getragen werden. 1 283 DM werden jährlich für den Erhalt solch einer Meßstelle benötigt, die werktags offenhat und kostenlos Lebensmittel und Viehfutter mißt. Darüberhinaus werden die Ergebnisse der Meßstellen zu monatlichen nationalen Berichten zusammengefaßt. Diese gehen an die wichtigen Einrichtungen im Inland.

Prof. Nesterenko

Darum ist Prof. Nesterenko im März auf Partnersuche in Norddeutschland unterwegs. Er weiß, wovon er spricht. Von Anfang an war er an den Aufräumarbeiten beteiligt. Von 1990 bis 1993 leitete er ein unabhängiges 200köpfiges weißrussisch-ukrainisch-russisches Expertenkomitee, welches die tatsächlichen Folgen untersuchte. Heute ist er ein Mahner, Aufklärer. Er arbeitet an konkreten humanitären und wissenschaftlichen Projekten zur Linderung der Folgen des Supergaus und ist ein erbitterter Gegner der neuen Atompläne des "Präsidenten" Lukaschenko: Dieser will in Weißrußland neue Atomkraftwerke bauen und setzt dabei auf Hilfe vom Ausland.

Achim, Jugendumweltnetzwerk JANUN Hannover


Diese Veröffentlichung unterliegt dem Impressum des Oldenburger Stachel. Differenzen zur gedruckten Fassung sind nicht auszuschließen.
Nachdruck nur mit Quellenangabe, Belegexemplar erbeten.


 

 
  Differenzen zur gedruckten Fassung nicht auszuschließen. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Siehe auch Impressum dieser Ausgabe und Haupt-Impressum