Oldenburger STACHEL Ausgabe 4/98      Seite 1
 
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Dem Volk einen Bären aufgebunden?

Oder: Wie kommt man am besten an die Gen-Daten einer ganzen Bevölkerung?

Die brutale Vergewaltigung der 11jährigen Christina mit anschließender Ermordung hat im Südoldenburgischen und darüber hinaus bei vielen Menschen Trauer, Bestürzung oder Wut ausgelöst. Zu recht, wie ich meine, denn viel zu oft werden die vielen Mädchen, Jungen, Frauen und anderen Opfer vergessen, die - sogar im Kreise ihrer eigenen Familie - zu sexuellen Handlungen gezwungen werden und Vergewaltigungen über sich ergehen lassen müssen. Viel zu oft schweigt die Gesellschaft und damit jedeR einzelne.

In diesem Beitrag möchte ich nicht speziell auf das Verbrechen an Christina oder die Folgen eingehen, denn dazu ist bereits alles an anderer Stelle gesagt (höre auch "Gewaltforschung", 30.4. und 7.5., DLF, 20.10h, s. RadioTips; siehe auch "Scheiße, und dann mußte ich leben" Stachel 1/98). Vielmehr möchte ich einmal hinterfragen, ob die Ermittlungsmethode der Polizei, speziell das Einsammeln von genetischen Fingerabdrücken, wirklich dazu dient, den Verbrecher zu fangen, oder ob es nicht mehr um das Beruhigen der Bevölkerung, bzw. das schamlose Ausnutzen der Situation darstellt.

Anzeichen für Wiederholungstat

Die Ermittler haben bei Christina und einem anderen Mädchen, das seit zwei Jahren an den Folgen des Verbrechens leidet, genetische Fingerabdrücke des jeweiligen Täters gefunden und miteinander verglichen. Das Ergebnis weist darauf hin, daß es sich in beiden Fällen um den gleichen Täter handeln könnte.

Daraufhin hat die Polizei eine Täterbeschreibung veröffentlicht und sucht nun nach einem Mann, der mit einer außergewöhnlich tiefen Stimmlage, "wie ein Brummbär", akzentfreies Hochdeutsch spricht, 1,80 bis 1,90m groß, sportlich, schlank ist und bei der Tat am 17.1.1996 ein vermutlich violettes Auto mit Stufenheck benutzte. Soweit so gut.

18000 schlanke, eins-achtzig große Brummbären im Saterland

Dann jedoch erklärte sie der Bevölkerung, daß es wichtig für die Aufklärung sei, wenn alle 18000 junge Männer, die in der Region wohnen und zwischen 18 und 30 Jahre alt sind, eine Speichelprobe abgeben, aus der ein genetischer Fingerabruck erstellt wird. Dieser Fingerabruck soll in eine Gen-Datenbank kommen und mit dem des Täters verglichen werden. Weil die Menschen dazu nicht gezwungen werden können, geschah dieses auf freiwilliger Basis. Jedoch hat die dörfliche Umgebung, in der jeder jeden kennt und deshalb ein gewisser sozialer Druck herrscht, sicherlich dazu beigetragen, daß sich mancher "Freiwillige" zu der Untersuchung gezwungen fühlte. Mögleicherweise erwartete die Polizei nicht zuletzt deshalb eine Beteiligung von 100%. Doch wird durch solche "freiwilligen" Massenuntersuchungen nicht die Beweislast umgedreht, wonach nicht die Unschuldigen ihre Unschuld beweisen müssen, sondern dem Schuldigen seine Schuld?

Die Polizei wurde enttäuscht, es beteiligten sich "nur" zwei Drittel der Männer an dieser Aktion, vermutlich seltener aus Wut oder Trauer über die grausamen Qualen, die Christina erleiden mußte, bevor sie brutal ermordet wurde, als vielmehr aus Angst davor, "sich sonst verdächtig zu machen" (Zitat eines Untersuchten gegenüber der taz, 11.4.). Kurzum, wenn ich die Berichte aus Südoldenburg richtig verstehe, gingen 12000 Männer zur Speichelprobe, obwohl auf sie die Täterbeschreibung überhaupt nicht paßt. Hier stelle ich die Frage nach dem Sinn der Aktion. Wie haben diese 12000 Männer bei den Ermittlungen geholfen? Oder haben sie sie eher verzögert? Auf jeden Fall haben sie ihre Hände in Unschuld gewaschen: "Seht her, ich war's nicht. Ich bin rein von Schuld." Denn ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß der Verbrecher ein Mensch ist, der weiß, daß er sofort erkannt wird, wenn er sich am Speicheltest beteiligt, und deswegen nicht hingeht. Denkbar wäre auch, daß der Täter sich in der Gegend zwar sehr gut auskennt, aber nicht dort wohnt.

6000 Männer jedenfalls wollten nicht in die polizeiliche Gendatenbank und ließen sich nicht erfassen. (Nun ist auch klar, weshalb die Polizei den Beteiligungsanteil nicht vor Abschluß der Aktion veröffentlichen wollte. Interessant wäre es, zu erfahren, ob die "Verweigerer" in einer Art "Unloyalitätsliste" aufgenommen werden, wie es bei Sekten und Geheimdiensten praktiziert wird.) Zur Zeit des Redaktionsschlusses war sehr zweifelhaft, daß die Polizei einen Gerichtsbeschluß bekommt, die verbleibenden Männer nur aufgrund der Kriterien Alter und Wohnsitz zu einer Untersuchung zu zwingen. Das bedeutet, sie braucht wahrscheinlich einen konkreten Tatverdacht für den Zwangstest. Also muß sie ihre über 200 anderen Hinweise weiterverfolgen, um den Täter einzukreisen.

Kanther will Gene

Derweil hat Bundesinnenminister Kanther angekündigt, den Aufbau eine Zentraldatei für DNA-Profile beim Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden mit einer Verwaltungsverordnung anzuordnen. Gespräche mit den Innenministern der Länder laufen bereits. Nach seinen Vorstellungen sollen darin nicht nur Sexualstraftäter erfaßt werden, sondern auch Einbrecher und andere mittelschwere Kriminelle. Eine vom Bundesjustizminister Schmidt-Jorzig geforderte gesetzliche Regelung lehnt Kanther ab. Kritiker befürchten daher, daß er auf diese Weise per Anweisung die Menge der zu erfassenden Personen erweitern kann. In Großbritanien wird der genetische Fingerabdruck bereits sehr häufig bei den Ermittlungen verwendet, jedoch seltener bei Gewaltverbrechen, sondern besonders bei Einbruchsdelikten.

Einmal drin, immer drin?

Ob in Südoldenburg der Täter gefunden wird oder nicht, die Polizei wird auf jeden Fall einen Erfolg einfahren: Sie hat jetzt die Gen-Daten von über 12000 jungen Männern, die noch ein langes Leben vor sich haben. Zwar ist den Menschen versprochen worden, die Daten nach dem Fall wieder zu löschen, doch wer außer der Polizei kontrolliert die Polizei?

Verlieren sie irgendwann, irgendwo auch nur ein Härchen (nötig ist ein Zellkern, also z.B. Haare, Hautpartikel), das ein Polizist findet und untersuchen läßt, spuckt der Computer den Namen eines Menschen als Eigentümer aus. Dieses Ergebnis, das eigentlich nicht mehr als ein Indiz ist, könnte in Zukunft stärkeres Gewicht haben als andere Indizien oder Alibis. Und das ist problematisch, denn wie die bisherige Erfahrung zeigt, muß in allen Stufen der Laboranalyse exakt und sauber gearbeitet werden, um eine Verwechslung der Proben, eine Verfälschung des Genmaterials oder eine fehlerhafte Auswertung zu vermeiden. Des weiteren ist es möglich, daß genetisches Material von fremden Personen umhergetragen wird, z.B. wenn ein Haar auf eine fremde Jacke fällt. Darf das dazu führen, daß ein Unschuldiger bestraft wird? "Mir kann nichts passieren..."

Doch nach der gängigen Meinung brauchen wir uns darüber keine großen Sorgen zu machen, denn wer sich nichts zu Schulden kommen läßt, braucht auch nichts zu befürchten. Die Männer aus Südoldenburg waren ebenfalls unbescholtene Bürger und hatten nichts zu verbergen. Deshalb (so äußerten Untersuchte) haben sie ja auch Angst, "sich verdächtig zu machen", "Ärger zu bekommen" oder "die Polizei vor der Haustür stehen zu haben", wenn Sie nicht zu der Untersuchung gehen...

muh


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