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 "Es ist nicht mein Rollstuhl, der mich behindert"
Tanja Muster und Kassandra Ruhm sind zwei lesbisch behinderte Frauen. Ihre hier abgedruckten Texte und Gedichte stammen aus einer Lesung, die sie am Montag dem 8. Juni in der Universität Oldenburg gehalten haben. Sie spiegeln ihre Erfahrungen mit der dreifachen Diskriminierung durch Frauen-, Lesben- und Behindertenfeindlichkeit wieder, aber auch die enorme Kraft und Lebensfreude, die sie aus und für sich selbst und ihr Leben entfalten.  
 
BUS-STOP
Ein realistisches Stückchen TheARTer 
 
Eine behinderte Frau steht an der Bushaltestelle, wo auch schon andere Leute stehen und warten, teilweise eindeutige Blicke auf die Frau schmeißend. Ein Mann tritt schließlich näher an sie heran:"Darf ich sie mal was fragen? Hatten sie einen Unfall..."
 Die Frau unterbricht ihn:
 "Darf ich SIE mal was fragen?" - sie macht eine kurze Pause, um ihn, leicht bedauernd, zu mustern, wobei ihr Blick einige Sekunden an jener Stelle hängen bleibt:
 "Haben sie Probleme mit ihren Hoden??"
 Der Mann zuckt leicht zusammen. Die Frau fährt fort:
 "Sie sehen aber wirklich so aus, als ob sie Hodenprobleme haben!"
 Der Mann lächelt verwirrt und stammelt etwas vor sich hin wie: "Was..., bitte?!" Die Frau sagt laut, deutlich und langsam, während sie mit dem Zeigefinger mehrfach auf die Stelle weist (anstatt des Zeigefingers kann auch der Armstummel oder der Blindenstock benützt werden. Es ist jedoch ratsam erstmal nicht damit zu schlagen!):
 "Na, IHRE H-O-D-E-N!"
 Der Mann wird zunehmend verwirrter, blickt sich unsicher um, die Frau:
 "Sie tun mir wirklich leid. Das ist einfach schrecklich! Hodenprobleme! Und das in ihrem Alter!", sie schlägt die Hände, Armstummel oder ähnliches über dem Kopf zusammen.
 "Wissen Sie was? Hier hamse ne Mark für ihre Hoden."
 Sie drückt ihm freudestrahlend eine Mark in die Hand, sie geht, hinkt oder rollt ab, während sie ständig den Kopf schüttelt und laut vor sich her sagt: "Hodenprobleme, ganz schlimm, ganz schlimm. Da sollte er aber wirklich zuhause bleiben und sich nicht auch noch öffentlich zeigen. Ganz schlimm, ganz schlimm..."
 
 
Der Bus kommt. 
 
 LebensWert
 
Im Fernsehenwieder
 Diskussionen
 ob ich es wert wäre
 zu leben
 Eugenik
 vorgeburtliche Diagnostik
 Euthanasie
 und ich denke mir
 mit 15 Jahren wäre ich
 gestorben ohne den med. Fortschritt
 vor 60 Jahren wäre ich
 vergast worden aufgrund des ideologischen Fort-Schritts
 in ein paar Jahren würde ich
 wegen beidem nicht geboren werden
 wie soll ich leben
 mit dieser Vergangenheit
 in Zukunft
 
 
 
minderheit
 
in diesem landwird
 verdächtig oft das wort
 minderheit
 deklariert
 Mann (weiß, christlich, nichtbehindert, hetero...)
 könne schließlich nicht
 jeder minderheit
 rechte einräumen
 z.B.
 lesben
 schwulen
 behinderten
 immigrantInnen
 anders(un)gläubigen
 kindern
 alten
 frauen...
 marsmenschen
 kühlschränken
 natürlich. wir verstehen das.
 
 Irgendwie gleich
Schwester, wir sind dochalle
 irgendwie
 behindert,
 sagst du,
 und machst mich damit gleich
 dem Erdboden
 auf dem ich nicht stehe
 sondern humple, rolle
 und gleicher
 an-maßen-d
 machst du euch
 diesem Boden
 auf dem ihr nicht zu rollen
 im-stande
 seid
 ohne
 Gleich-gewichtigkeits-übungen
 
 
 ich kannnicht atmen-
 
dieses erstickungsgefühl, wenn ich zeitung lese, in der ich mich nirgends finden kann, unsichtbar gemachtdieses würgen, wenn ich mein haus verlasse, diese blicke, dieses ständige bewerten, diese grenzüberschreitungen, verletzungen,
 bevormundungen
 diese ohn-macht, wenn ich wieder an treppen stoße, an barrieren, an verfügungen, an rechtlosigkeit
 diese trauer, um mein ich, unser uns, unren uns-aufweichenden Kampf um elementare Würde&Rechte
 diese tränen, die mich ersticken
 und
 
 dieser heiße, heiße wunsch
 wegzufliegen
 ausatmen
 einmal ausatmen
 irendwo
 
 Entdeckung
 
Heute Nachtlief ich
 davon
 aus meinem Haus
 und meinen Behinderungsgefühlen
 die sie mir zuordnen
 lief und lief
 im Vorfrühling
 Kälte klirrt noch
 lief...
 atemberaubend
 durch
 diese leise singende Tauluft
 stand
 blickte
 blickte lange
 sehend
 in den schwarzklaren Himmelhintergrund
 Heute Nacht
 habe ich in ihm
 etwas Neues entdeckt
 sternengleich -
 MICH
 
 Die Stubenfliege
 
Es war mal eine Stubenfliegedie saß auf einer Flurenstiege.
 Die litt an ihrem kurzen Leben,
 denn dem war nur ein Tag gegeben
 
 "Und wenn mich nun...", seufzte sie laut,
 "ein Mensch ganz plötzlich niederhaut!?
 Sowas geschieht doch alle Tage!"
 Und sie bedauerte die Lage.
 
 
 "Oder ein Vogel frißt mich auf?!
 Nicht selten ist´s! Ein Fliegenlebenslauf!
 Ach meine Zeit ist kürzer noch bemessen...",
 so jammerte sie fort. Indessen,
 
 ihr ahnt es schon, die Zeit verann
 - wie das die Zeit so tut. Und dann
 als grad der Mond am Himmel klebte,
 starb eine Fliege - die nie lebte.
 
 
"Soll ich Anfassen?""Nein."
 "Ich fange sie dann auf", ein anderer Mann.
 "Nein!"
 "Aber wenn sie fallen, dann darf ich doch anfassen?!"
 "Nein ! Das dürfen sie nicht!" Laut und deutlich.
 Ich halte mich an der Bustür kräftig fest, lasse die Hinterräder langsam die hohe Stufe vom Niederflurbus zur Straße runter und schiebe die Vorderräder nach. Während ich mich gekippt halte, sehe ich seine Hand an meiner Rollstuhllehne, es ist anstrengend, ihn abzuwehren.
 Ich bin noch nicht ganz angekommen, da ergreift er meine Einkaufstüte, die während des Aussteigens von den Haltestäben gerutscht ist, zerquetscht den Inhalt und lacht: "Es ist doch gut, daß ich da war!"
 Meine Schaen reiße ich ihm schnaubend aus den Händen.
 "Das sind meine Sachen! Was soll das denn?! Wenn ich nein sage, meine ich auch nein!
 Drecksack. Arschloch."
 Doch meinen Horror-Frust, den ich nichtmals durch mein promptes, wütendes Geschimpfe abwenden konnte, kann ich nicht so leicht wie meine Tüte aus seinen Händen herausreissen.
 
 es ist sonnig
 nachts
 wenn sie bald kommt
 
 
 
Liebe Zeitgenossin!
Bitte vergiß nicht, wenn ich dir gerade eine Situation erzähle, in der wiedermal über andersfähige, "behinderte" Menschen schlimme Sachen geäußert oder mit ihnen gemacht werden, mich aufzufordern: "Warum sagst du denn nichts?! Warum beschwerst du dich nicht!"Bitte unterlaß jede Stellungnahme gegen Diskriminierungen, Verunglimpfungen und Übergriffe auf Menschen außerhalb der Norm, unterlaß jedes Eingreifen deinerseits.
 Bitte unterlaß es auch, dich mit dem, was ich dir gesagt habe, auseinanderzusetzen, dein eigenes Verhalten zu hinterfragen oder mir zuzuhören und Verständnis und ein Ernstnehmen meiner Lebensrealität zu geben.
 Aber vergiß nicht, mich, gegen die die Diskriminierungen gerichtet sind, kritisch zu fragen: "Warum tust du denn nichts dagegen?!"
 
 
Joani oder wer uns ein Vorbild sein soll
Eine krüppel-lesbische Bekannte von mir hat in einem ihrer Bücher beschrieben, wie ihr immer wieder empfohlen wurde, sich ein Beispiel an Joani zu nehmen. Einer anderen Schriftstellerin, die durch einen Unfall "behindert" wurde und ganz brav die Verlobung mit ihrem Liebsten gelöst hat, um ihn frei zu geben, damit er mit einer anderen Frau Erfüllung seiner Gelüste und Familienplanungsvorstellungen finden und glücklich werden könne.Ich glaube, Joani ist bis heute nicht darauf gekommen, daß auch sie sexuelle Gelüste haben könnte, sowohl auf Kindersegen hinauslaufende als auch andere, daß sie diese mit einem anderen Mann oder einer anderen Frau für beide befriedigend leben könnte und daß es keinen Grund gibt, warum sie durch ihre körperliche Andersartigkeit eine minderwertige Partnerin sein sollte. Nun, da haben wir Joani und ich einen Unterschied. Ich glaube, daß es für ein glückliches Leben nicht nötig ist, normgerecht zu sein. Ich glaube, daß z.B. ein anders geformter Körper besonders schön und attraktiv sein kann, weil Vielfalt so aufregend und befreiend ist. Daß das Problem meist lediglich die mangelnde Fähigkeit ist, sich von einengenden Idealbildern zu lösen und eine besondere Attraktivität wahrzunehmen. Ich glaube, daß, um sich zu lieben oder auch um Sex ohne jedes weitergehende Gefühl zu haben, es nicht nötig ist, eine bestimmte Anzahl von Armen, Beinen, Kilogramm Körpergewicht oder Muskelkraft zu haben. Ich glaube, daß ich mich dieser Einschränkung nicht unterwerfen möchte
 
 Meine Tränen
 auf dem Boden der Toilette
 im Kulturzentrum
 
 Wieder
 eine Veranstaltung
 ohne mich
 
 Hierher zu kommen
 war
 sehr mühsam
 
 Auch der Weg
 zurück
 wird
 schwer sein
 
 Eine Etage
 über mir
 sitzt ihr andern
 fast höre ich euch diskutieren
 
 Ich sitze
 hier auf der Toilette
 
 Meine Tränen
 auf dem Boden der Toilette
 im Kulturzentrum
 sind noch nicht getrocknet
 
 Es ist nicht mein Rollstuhl,
 der mich wirklich einschränkt.
 
 
Wer wird als potentielle/r Geliebte/r wahrgenommen?
Vor einiger Zeit bin ich mit einer Bekannten durch die FußgängerInnen-Zone gerollt, bzw. nur ich bin gerollt, sie ist zu Fuß gegangen, und im Laufe des Gesprächs habe ich sie gefragt, ob sie sich in eine Krüppelfrau genauso verlieben würde, wie in eine andere."Ja, klar, wenn sie die Frau meines Lebens ist, natürlich würde ich das. Ich wäre ja blöd, wenn ich dann nichts mit ihr anfangen würde. Ich mache keinen Unterschied zwischen "behinderten" und "nichtbehinderten" Frauen.
 Hört sich schön an. Aber da, wenn es sich um ein "nichtbehindertes" Gegenüber handelte, sie nicht nur mit der Frau ihres Lebens was angefangen hat, sondern auch mit manschen anderen, die nicht ihrem absoluten Traumbild entsprachen, macht sie da sehr wohl einen Unterschied. Als ich vor ein paar Jahren als "nichtbehinder" bezeichnet wurde, habe ich, wenn ich neue Leute kennenlernte, regelmäßig überlegt, ob ich sie attraktiv fände oder sicher nicht. Ich habe nicht geglaubt, negative Vrourteile gegenüber anders fähigen Menschen zu haben. Aber bei ihnen habe ich gar nicht erst überlegt, ob sie für mich in Frage kämen. Diese Frage habe ich mir von vorneherein nicht gestellt. Wenn eine besonders toll gewesen wäre, hätte ich mein Vorurteil, das als so selbstverständlich verinnerlicht war, daß ich es überhaupt nicht bemerkt habe, wahrscheinlich über Bord geworfen. Doch ohne besonders großen Anlaß habe ich es beibehalten und anders fähige Menschen in meinem Umfeld gar nicht erst durch die entsprechende Brille betrachtet. Und dadurch konnten weniger Liebes- oder erotisch Verhältnisse entstehen. Ich glaube, daß das ein normales Verhalten ist. Aber "gleich behandelt" ist es sicher nicht.
 
 
Widerstand
 
Ich laufe nicht ohne RollstuhlDu ißt nicht ohne Spasmen
 Sie spricht nicht ohne Stottern
 Er sieht nicht alles Geforderte
 Ein Schmetterling behält die Farbe
 
 Wir tanzen nicht mit unauffälligen Bewegungen
 Ihr jobbt nicht vierzig Stunden
 Sie passen nicht in jede Norm
 
 Ursprünglich haben wir
 es uns nicht ausgesucht
 Aber mittlerweile
 will ich gar nicht mehr
 passend laufen
 
 (Der Widerstand ist nicht die "Einschränkung", die "Weigerung zu laufen", sondern die Weigerung, es zu wollen und anzustreben.)
 
 Der richtige Mann
Vor einer Weile telefonierte ich mit meinem damaligen Rehaladen, weil ich ein Ersatzteil für meinen defekten Rolli brauchte. Der Krüppel-Mann am anderen Ende der Leitung war sichtlich an mir -oder einfach nur an einer Frau?- interessiert und grub mich munter an. Er wollte mir dann das Ersatzteil einen Tag eher persönlich nach Hause bringen. Ich bin manchmal gern freundlich zu Leuten, jedoch hab ich öfter erlebt, daß Krüppel-Männer das als gute Chance ´ne Frau aufzureißen gedeutet haben und ein "normales" nettes Gespräch nicht mehr möglich war. Aus Sorge, daß aus ihm nicht reine Menschenliebe, sondern ein gewisses Eigeninteresse sprächeen, habe ich mich als Lesbe geoutet. Seine Reaktion darauf war jedoch erstaunlich:"Das stört mich nicht!"
 "Nein, mich auch nicht."
 "Ich sehe das so: Du hast einfach noch nicht den richtigen Mann gefunden!"
 "Wie bitte?!"
 "Aber das macht ja nichts. Jetzt bin ich ja da, jetzt hast du den richtigen Mann getroffen!"
 Ich habe auf des Ersatzteil lieber einen Tag länger gewartet.
 
 Echte Lesben
Verschiedentlich habe ich mitbekommen, wie "nichtbehinderte" Lesben sich weigerten, geoutete Krüppel-Lesben als Lesben wahrzunehmen. Teils weil sie ihnen nicht "zutrauten" lesbisch zu sein, teils mit Begründungen wie, daß andere ("nichtbehinderte") Lesben nichts mit ihnen hätten und sie in -vermeintlicher Ermangelung lesbischer Verhältnisse- auch keine Lesben wären. Eine Widergabe der Gespräche möchte ich uns hier ersparen. 
 Diese Veröffentlichung unterliegt dem 
Impressum des Oldenburger Stachel. 
Differenzen zur gedruckten Fassung sind nicht auszuschließen.
 Nachdruck nur mit Quellenangabe, Belegexemplar erbeten.
 
 
   
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