Oldenburger STACHEL Ausgabe 9/98      Seite 6
 
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"Nur die Spitze des Eisbergs"

4. September, Diskussionsveranstaltung des Arbeitskreises Wesermarsch in Rodenkirchen: Diplomphysiker Lothar Hahn, Atomexperte des Ökoinstituts Darmstadt, referierte über den Junistörfall im Atomkraftwerk Esenshamm und über Strahlenbelastungen bei Castor-Transporten.

An sich hatte der Arbeitskreis zu der Diskussionsveranstaltung eingeladen, um den bisher schwersten bekannten Störfall in einem bundesdeutschen Atomkraftwerk (siehe Stachel 7-8/98 Seite 16) mit einem Kenner der Materie zu besprechen. Das Thema CASTOR-Transport- Skandal, das auch auf dem Programm stand, nahm dann doch zu Anfang einen größeren Teil des Abends ein als gedacht.

Bisher nur Vermutungen

Vor zwei Wochen stellte die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) auf einer Tagung ihren Zwischenbericht über die bisherigen ca. 1500 Castor-Transporte vor. Eine abschließende Beurteilung enthält dieser Bericht nicht, denn bisher besteht kein theoretisches Modell, das die Kontaminationen der CASTOR-Behälter erklärt, das durchgerechnet und in Experimenten mit CASTOR-Behältern verifiziert worden ist. Erst nach einer "wasserdichten" Prüfung des Modells in der Realität kann gesagt werden das verstanden ist, woher die Kontaminationen kommen solchen. Und erst wenn aufgrund des Modells Möglichkeiten gesucht und gefunden wurden, um die radioaktiven Flecken und Partikel auf den CASTORen zu vermeiden könnte gesagt werden, daß das Kontaminationsproblem gelöst worden ist. Noch existieren nur Vermutungen über die Art und Weise, wie die Behälter kontaminiert werden. Der GRS-Bericht geht davon aus, daß die radioaktiven Bestandteile aus dem Wasser des Brennelementelagerbeckens kommen und auf der Außenseite des CASTORs anhaften. Wenn das wirklich so ist, könnte eine geänderte Handhabung der CASTORen und eine gründlichere Reinigung dagegen abhelfen. Ein Gutachten von Elmar Schlich weist jedoch auf eine weitere mögliche Ursache für die Kontaminationen hin: Durch die Handhabung der CASTOR-Behälter unter Wasser träten Korrisionserscheinungen an der nickelbeschichteten Oberfläche auf, wodurch Wasser und radioaktive Partikel darunter gelangen könnten. Durch Putzen wäre das nicht zu verhindern. Außerdem könnte eine gewisse Undichtigkeit der CASTORen durch diese Korrisionen auftreten. In diesem Fall wäre es unmöglich, die Behälter wirklich dicht abzuschließen.

Die Verstrahlung der CASTORen wurde von der GRS an Hand von stichprobenartigen Messungen beurteilt, frei gemessen an einem Teil der Oberfläche. Gemessen werde nur an vorgegebenen Punkten, bei Eingang und Ausgang der Transporte. Davon abzuleiten, daß andere CASTORen, von denen keine Verstrahlungen bekannt geworden sind, nicht kontaminiert waren, ist nach Lothar Hahn eine "nicht haltbare Aussage". Der Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung sei "ein Muß", um die Zahl der gefährlichen Transporte zu verringern, die Gefahren durch abgetrenntes Plutonium zu minimieren und die Menge der dabei zusätzlich entstehenden Abfälle zu vermeiden.

Der eigentliche Skandal

Im zweiten Teil des Abends erläuterte Lothar Hahn kurz den Ablauf des Störfalls im Atomkraftwerk Esenshamm am 6. Juni und ging dann ausführlicher auf die Themen "Reaktorsicherheit" und "Zuverlässigkeit des Reaktorbetreibers" ein. In der Öffentlichkeit ist über den Ablauf und die Hintergründe wenig bekannt. Auf der öffentlichen Anhörung am 18. Juni stellte der Leiter des Reaktors bei der Erläuterung des Störfalls die Schwierigkeiten mit der Turbinenölversorgung in den Vordergrund, das Problem des nicht funktionsfähigen Sicherheitsventils und des dazugehörenden Schlüssels wurde nur relativ knapp angesprochen. Tatsächlich stellten das Turbinenöl und die unqualifizierten Versuche der Betriebsmannschaft, die Ursache für den Ölmangel zu finden, das geringere Problem dar.

Der eigentliche Skandal war das Versagen einer kompletten mehrstufigen Sicherheitskett e an einem Dampferzeugersystem. Diese versagte, obwohl der Druck im Sekundärkreislauf stieg. Die Betriebsmannsch aft hatte die darin iegende Turbine und die Dampfumleitstation zum Turbinen-Kondensator weggeschaltet. Zwar wurde nach kurzer Zeit die Frischdampfumleitstation wieder geöffnet und so der hohe Druck wieder abgebaut. Wirklich gefährlich hätte es werden können, wenn aufgrund eines Defekts diese Möglichkeit nicht bestanden hätte. Denn weitere Auswege gab es nicht mehr: Der komplette vielfach redundant (mehrfachX ausgelegte Steuerstrang für die Frischdampfarmaturen und das Hauptfrischdampfventil für einen der Dampferzeuger waren im Zuge von Reparaturarbeiten funktionsunfähig geschaltet, trotzdem vor dem Anfahren des Reaktors nicht wieder eingeschaltet worden. Die dafür notwendigen Schlüssel waren nicht korrekt wieder in den Schlüsselkasten im Reaktorkontrollraum zurückgehängt worden. Mehrere Tage nach Wiederanfahren des Reaktors erkannten die Angestellten in den Tages- und Nachtschichten nicht, daß dort falsche Schlüssel hingen! Keine technische Vorrichtung im Kontrollraum des Reaktors zeigte an, daß das Sicherheitssystem nicht vollständig funktionierte. Offensichtlich war auch keine Prüfung durchgeführt worden, um solche Mängel auszuschließen. Vertrauen in das System der Reaktorsicherheit erscheint bei so schwerwiegenden Pannen ungerechtfertigt - wer weiß, wie viele andere Mängel nie bemerkt worden sind?

Des- oder Information?

Ein Folgeproblem des Störfalls, der weltweit für Aufsehen gesorgt hat, war die Informationspolitik des Betreibers Preußen Elektra. Es war lange Zeit schwierig, Genaueres über den Störfall zu erfahren. Der Betreiber versuchte abzuwiegeln und auf das nebensächliche Ölfilterproblem abzulenken. Außerdem war von der Pressesprecherin der Firma u.a. zu hören, es habe sich um ein "ergonomisches Problem" gehandelt, beinahe so, als ob einige Angestellte nicht gut auf ihren Stühlen sitzen könnten oder der Kontrollgang zum Schlüsselkasten unzumutbar beschwerlich gewesen sei.

Sicherheitskultur?

Auf der Veranstaltung kam anschließend die Zuverlässigkeit der Reaktorbetreiber zur Sprache. Diese haben zur Zeit mehrere Probleme: Viele der lange eingearbeiteten Reaktorangestellten, die seit der Inbetriebnahme der Reaktoren und während der zahlreichen Umbauten Erfahrungen sammeln konnten, gehen inzwischen in Rente. Mit ihnen geht ein Großteil des informellen Wissens verloren. Selbst von den Reaktorbetreibern wird die heute die geringe Menge und Qualität des Nachwuchses beklagt. Lothar Hahn warnte in diesem Zusammenhang vor den Gefahren einer fehlenden Sicherheitskultur, zu der auch gehöre, daß die Angestellten die Anleitungen zum Betreiben der Atomkraftwerke nicht nur ausführen, sondern auch im Zusammenhang mit dem gesamten Funktionieren des Kraftwerkes sehen und verstehen können. Zu einer Sicherheitskultur, wie sie selbst von der Atomenergiebehörde IAEA gefordert wird, gehöre ebenfalls, daß Sicherheit und Vermeidung von Risiken an erster Stelle stehen. Als schädlich für solch eine Einstellung sah Lothar Hahn die in den letzten Jahren vorgenommene Senkung der Sicherheitsstandards und Lockerung der Grenzwerte durch die Bundesregierung an. Es sei zu befürchten, daß die Reaktorbetreiber als normale kapitalistische Unternehmen zur weiteren Gewinnmaximierung an der Kostenschraube drehen werden: u.a. stünden Einsparungen beim Personal an. Weiter sei zu befürchten, daß in Zukunft die Stillstandszei ten der Atomkraftwerke dadurch reduziert werden, daß Wartungs- und Reparaturarbeiten bei laufendem Betrieb des Reaktors durchgeführt werden. Aufgrund dieser und anderer Beispiele wurden auf der Veranstaltung erhebliche Zweifel an der Zuverlässigkeit und Fachkunde der Atomkraftwerksbetreiber laut. Bei der ungeheueren Gefahr, die von den "gebremsten Atombomben" ausgeht, darf es jedoch niemals eine Frage des Zufalls sein, ob aus einem Störfall eine Katastrophe wird oder nicht.

Richard


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