Oldenburger STACHEL Ausgabe 12/98      Seite 13
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Mit Brief und Siegel

Endlich! Seit Jahren mußte meine Nachbarin in ihrem Beruf immer wieder um die Anerkennung ihrer Arbeit Kämpfen - ab Januar wird damit erstmal Schluß sein, allerdings muß sie sich noch bescheinigen lassen, was sie kann. Erst hatte sie studiert und ein Diplom in Psychologie erworben, dann hatte sie in einer langen Zusatzausbildung ein tiefenpsychologisch fundiertes Therapieverfahren erlernt und sich über zwanzig Jahre lang ständig weitergebildet - um aber therapieren zu dürfen, mußte sie noch ein Zusatzzertifikat als Heilpraktikerin erwerben. Ab Januar wird sie nur weiterarbeiten dürfen, wenn sie dem Staat ausführlich beweist, was sie in den letzten dreißig Jahren gelernt und geleistet hat.

Im März dieses Jahres ist nach langem Ringen der Bundes- und Länderregierungen endlich das neue Psychotherapiegesetz verabschiedet worden, das zum ersten Januar in Kraft tritt. Nach weiterem langen Ringen zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und den Berufsfachverbänden der Psychologen sind in den Bundesländern die Durchführungsbestimmungen erarbeitet worden, mit deren Hilfe nun ein für alle Mal die Frage geklärt werden soll, wer psychotherapieren darf und wer nicht.

Zum Beispiel könnte meine Nachbarin sich bescheinigen lassen, daß sie in viertausend Stunden Therapie in einem der sogenannten "Richtlinienverfahren" gearbeitet hat, dann müßte sie auch nur noch einhundertundvierzig Stunden Theorieausbildung "nachholen". Die Spielregeln lassen hier immerhin ein paar Varianten zu, und meine Nachbarin hat sich dazu entschieden, zweihundertundfünfzig Therapiestunden unter Supervision (d.h. Kontrolle durch eine andere, speziell qualifizierte Psychologin) nachzuweisen, muß dann aber auch zweihundertundachtzig Stunden erneuter Theorieausbildung absolvieren. Diese kostet auch nur einige tausend Mark und muß der Einfachheit halber aus eigener Tasche bezahlt werden. Was passiert eigentlich in den vier Wochen, in denen meine Nachbarin nicht arbeiten kann, da sie täglich zehn Stunden lang mit Sachverhalten berieselt wird, was passiert in dieser Zeit mit ihren Patienten, die sonst - aus gesundheitlichen Gründen! - darauf angewiesen sind, daß sie ein- bis zweimal wöchentlich eine Stunde Therapie erhalten?

Theorie in der Praxis

Aber halt! Nachdem sie ihr verstaubtes Studienbuch und die Unterlagen ihrer Zusatzausbildung durchgesehen hat, hat sie herausgefunden, daß sie sich fünfzig Stunden auf die theoretische Ausbildung anrechnen lassen kann. Na also, jetzt schickt sie noch die einhundertsiebenundsechzig Photokopien mit ein. Beglaubigt müssen die natürlich sein - nur gut, daß sie herausgefunden hat, daß das Beglaubigen beim Pastor billiger ist als bei der Behörde. Aber sie ist dankbar dafür, daß sie so ein bißchen mehr Zeit hat für ihre Patienten und die Ärzte, die sie gelegentlich mit unterrichtet. Was die Ärzte lernen? Ach so, die machen eine dreijährige Zusatzausbildung, die sie dazu berechtigt, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie durchzuführen und mit den Krankenkassen abzurechnen.

Meine Nachbarin läßt sich also von sechzehn Krankenkassen bestätigen, daß sie in einzelnen, konkreten Fällen schon für ihre Arbeit bezahlt wurde. Wenn es auch knapp einhundert Mark Porto kostet, geht es fast immer problemlos; nur eine Kasse hat bisher4 geantwortet, man könne die Bescheinigung leider nicht erteilen, da so alte Fälle leider nicht mehr "in der EDV" sind. Eine andere Krankenkasse schrieb, man würde die Bescheinigung sogar sehr gerne erteilen - gegen eine Gebühr von DM 60,-.

Bescheinigungen, Urkunden, Zeugnisse, Erklärungen ...

Wenn sie alle diese Bescheinigungen beisammen hat, wird meine Nachbarin sie zusammen mit ihrem Diplomzeugnis, einem amtlichen Führungszeugnis, einer Geburtsurkunde und einer Erklärung, daß sie zur Zeit nicht unter psychischen oder ansteckenden Krankheiten leidet, an das Prüfungsamt für Heilberufe des Gesundheitsministeriums senden und - toi, toi, toi! - ihre "Approbation" erhalten. Dann darf sie weiterarbeiten.

Wenn sie gerne für die Psychotherapie von einer Krankenkasse bezahlt werden möchte, wie der Allgemeinmediziner nebenan mit seiner Zusatzausbildung, dann muß sie das Approbationszeugnis aber noch der kassenärztlichen Vereinigung vorlegen. Natürlich verlangt die ihr eigenes Exemplar des amtlichen Führungszeugnis und der Geburtsurkunde - es wäre doch möglich, daß meine Nachbarin inzwischen eine Bank überfallen hat oder plötzlich unter einem anderen Namen wiedergeboren ist?

Seelenklempnerin mit Meisterbrief

Aber dann ist sie wieder Psychotherapeutin, und endlich erhält diese Berufsbezeichnung den Respekt, den sie verdient, und ist geschützt wie die Bezeichnung "Tischlermeister". Und so hat sie doch auch einen guten Beitrag zur Tilgung der Staatsschulden beigetragen, indem sie verschiedensten staatlichen Einrichtungen insgesamt etwa zweitausend Mark Spenden hat zukommen lassen, für ein paar Stempel und Unterschriften ... Und wenn sie sich von diesem Papierkrieg wieder erholt hat, wird sie sich sicherlich darüber freuen - und ihre Patienten und Patientinnen auch!

miracle

 

 
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