Oldenburger STACHEL Ausgabe 12/98      Seite 12
 
Inhalt dieser Ausgabe
 

Rieken als "Spitze eines Eisberges":

Mit Zivilcourage gegen "normale" Täter!

Anlässlich der Verurteilung des Mädchenmörders Rieken weist die Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt "Wildwasser" darauf hin, daß Gewalt gegen Kinder nicht die Ausnahme, sondern weitverbreitet ist. Körperliche Gewalt ist als Disziplinierungsmittel in der alltäglichen Erziehungspraxis anerkannt, schwere körperliche Mißhandlung bis hin zur Kindestötung sowie emotionale und psychische Gewalt wie Drohungen, Liebesentzug und Vernachlässigung sind tägliche Praxis. Sexualisierte Gewalt ist eine Form der gegen Mädchen und Jungen stattfindenden Gewalt; bei Rieken ging es nicht um das Ausleben eines Sexualtriebes, sondern diesen Tätern geht es in erster Linie darum, Macht auszuüben, Wut abzulassen und Aggressionen auszuagieren. Sexualität ist lediglich das Mittel dazu. Meistens sind Mädchen deshalb die Opfer solcher Gewalt, weil sie in den Hierachien von Männern und Frauen sowie Erwachsenen und Kindern ganz unten stehen.

Viele Fälle nicht aufgedeckt

In der Bundesrepublik ist jedes zweite bis fünfte Mädchen und jeder siebte bis zwölfte Junge von sexuellem Mißbrauch betroffen. Dem steht eine geringe Aufdeckungs- und Verurteilungsrate gegenüber. Es ist davon auszugehen, daß nur zwei bis sechs Prozent aller Fälle angezeigt werden. Und weniger als ein Prozent aller tatsächlichen Delikte führen letztlich zu einer Bestrafung des Täters (nach Angaben des Instituts für forensische Psychatrie der FU Berlin 1991).

Sexualstraftäter sind häufig Wiederholungstät er und mißbrauchen mehrere Opfer. Im Strafverfahren muß dies größere Berücksichtigung finden. Um weitere zukünftige Täterschaft zu verhindern, muß im juristischen Verfahren das Wissen über Ursachen und Folgen der sexualisierten Gewalt stärker einfließen. Wildwasser begrüßt die Registrierung von Sexualstraftätern und sieht eine Erfassung der angezeigten Fälle als hilfreich für die Ermittlungsarbeit an.

Tatort: Nahraum und Familie

Sexueller Kindesmißbrauch findet zum überwiegenden Teil im sozialen Nahraum und in der Familie statt. Allein in der Oldenburger Beratungsstelle gehen pro Jahr 200 Meldungen über sexuellen Mißbrauch ein. Rieken wurde von der Nachbarschaft als unauffällig und "normal" beschrieben, alle waren überrascht, daß er solch ein "Monster" sein sollte. "Der größte Teil der Delikte wird niemals bekannt und gerade von denjenigen begangen, denen wir es eben am wenigsten zugetraut hätten. Der größte Anteil von Tätern ist eben besonders gut sozial integriert, angepaßt, unauffällig, sympathisch, durchaus auch attraktiv, eine fleißige und fähige Arbeitskraft. Diese Angepasstheit erweist sich bekanntlich als der allerbeste Schutz vor Entdeckung: über jeden Verdacht erhaben, denn Nachbarn wissen ganz genau, daß der so etwas nie tun würde."(Jungjohann 1993)

Dabei gab es in Riekens Herkunftsfamilie eine lange Geschichte von Gewalt und Mißbrauch; eine Anzeige der Schwester hatte jedoch keinen Erfolg. Die Taten wurden verdeckt und verharmlost. Der Extremfall Rieken zeigt noch einmal deutlich auf, wie gefährlich es sein kann, die ersten Anzeichen oder Hinweise auf sexuelle Gewalt, die ersten Straftaten nicht ernst zu nehmen oder aus falscher Einschätzung der Tat und Täterpersönlichkeit "Milde" walten zu lassen.

Verantwortung der Gesellschaft...

Johanna Pitz von Wildwasser wies darauf hin, daß es zwar eine verständlich Abwehrreaktion sei, Täter wie Rieken zu einem einzelnen "Monster" zu stilisieren und sich so abzugrenzen. Gewalt gegen Kinder sei jedoch alltäglich und finde meistens im gesellschaftlichen Nahraum statt. Immer seien dabei Dominanz und Ohnmachtserfah rungen mit im Spiel. Gesellschaft und Staat müssten stärker ihre Verantwortung dafür wahrnehmen, daß Kinder vor Gewalt geschützt werden. Viele Möglichkeiten der Intervention blieben bisher ungenützt. So fände z.B. der Sextourismus zu den Weltmärkten der Kinderpornographie ganz offen und massenhaft statt. Staatliche Institutionen auf allen Ebenen müssten bereitwilliger und qualifizierter zum Schutz von Kindern tätig werden. So gebe es zwar einzelne Beamte bei der Polizei, die sich engagiert einsetzten. Doch insgesamt seien diese und andere Institutionen unheimlich schwerfällig, die Arbeit sei zu sehr an bestimmte Personen gebunden. Fielen diese aus, fiele die ganze Arbeit zum Kindesmißbrauch flach. Die Gesellschaft müsse an die Wurzeln der Gewalt gehen. Vorbilder und Gewaltstrategien entwickeln Männer während ihrer Jugend. In der Zeit fänden auch die ersten Straftaten statt. Hier müsste verstärkt angesetzt werden, bevor sich die Tatmuster verfestigten. Therapien, Trainingsmaßnahmen und andere Programme müssten entwickelt werden. Um solche Programme zur Jungenarbeit und Gewaltprävention erarbeiten zu können, seien eingehende Untersuchungen und Studien notwendig. Dafür gibt es in Deutschland aber kein Geld. Repräsentative Zahlen und Untersuchungsergebnisse müssen daher z. B. aus den Niederlanden und USA übermommen werden. Allgemein müsste sich die Einstellung vo Staat und Gesellschaft zur Gewalt ändern. Ein "Klaps" als Erziehungsmittel dürfte nicht mehr gesetzlich legitimiert sein.

... und der Einzelnen

Im gesellschaftlichen Nahbereich müssen alle Erwachsene stärker ihre Verantwortung für den Schutz der Kinder wahrnehmen. Anzeichen für Kindesmißbrauch in der nahen Umgebung müssen stärker beachtet und ernst genommen werden, bekanntgewordene Fälle dürfen nicht mehr verdeckt werden, auch wenn der Täter aus der Verwandtschaft oder der eigenen Familie kommt. Hier ist mehr Zivilcourage notwendig! Mißbrauch muß in seinen vielfältigen Formen und so früh wie möglich offen zur Sprache gebracht werden. Sprachliche Entgleisungen von Verwandten z.B. gegenüber Mädchen dürfen nicht schweigend hingenommen werden, sondern müssen sofort gestoppt werden. Bei Mißbrauch von Kindern gibt es immer die Tendenz, bei "Erfolg" die Taten auszudehnen.

Alle Erwachsenen, die im pädagogischen Bereich tätig sind, sollten sich damit auseinandersetzen, wie sie Kindesmißbrauch erkennen, beenden und verhindern können.

Forderungen

Wildwasser setzt sich dafür ein, daß die Strafmöglichkeiten, die bestehende Gesetze bieten, gegen Gewalttäter wahrgenommen und keine falsche "Milde" gegen Gewalttäter ausgeübt wird. Im Extremfall Rieken hat das drei Mädchen das Leben gekostet. Wildwasser fordert, daß die Täter mit der Strafe gleichzeitig eine Verpflichtung zur Therapie erhalten; einen Straferlaß für die Teilnahme an der Therapie soll es nicht mehr geben. Die Verjährungsfrist für Kindesmißbrauch soll vollständig abgeschafft werden. Für besonders gefährliche Täter soll Sicherheitsverwahrung angeordnet werden. Verurteilte Pädagogen sollen Berufsverbot erhalten, eine Versetzung z.B. an eine andere Schule lehnt Wildwasser ab.

achim

 

 
  Differenzen zur gedruckten Fassung nicht auszuschließen. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Siehe auch Impressum dieser Ausgabe und Haupt-Impressum